Trugschluss
entschuldigen. »War
nicht einfach, Sie so anzusprechen …«
Blühm sah, wie drüben in Lugano ein
Ausflugsdampfer ablegte. »Zufall – Schicksal?«, fragte er, ohne eine Antwort zu
erwarten. Er dachte an den Augenblick des Zusammentreffens, wie sie ihn
angelächelt, fast ein bisschen schüchtern, und gefragt hatte, ob sie sich neben
ihn setzen dürfe. Dann hatte auch er sie erkannt, schließlich war er einige
wenige Male bei Willing in Hohenstadt oben gewesen.
»Immerhin«, sagte sie jetzt und holte ihn
aus seinen Gedanken zurück, »immerhin hat man Sie mir als gefährlichen Gegner
geschildert, der viel zu viele Einblicke habe, durch wen auch immer.«
Der Mann schwieg. Ja, dachte er, es war
ihm gelungen, viele Quellen anzuzapfen, mit deren Hilfe er aus zahlreichen
Mosaiksteinchen ein apokalyptisches Bild hatte zusammensetzen können. Eines,
das niemals Realität werden durfte. »Und dann hat Herr Kirchner aussteigen
wollen«, stellte Blühm fest, um den Faden nicht zu verlieren.
Die Frau nickte. »Ja. Und jetzt, wo sie
ihn umgebracht haben, wurde mir klar, dass ich an diesem Tag hier sein muss.«
»An diesem Tag?« Blühm tat erstaunt.
»Stefan hat schon vor Monaten gesagt, dass
sie es am 14. März tun würden – am 125. Jahrestag von Einsteins Geburtstag.«
Es war eine gute Idee gewesen, sie für
diesen Samstagvormittag einzuladen, dachte Blühm. Diese attraktive Frau konnte
jetzt einen Beschützer brauchen.
Sie schwiegen sich an. Als die Ausweichstelle überwunden und die
talwärts fahrende Kabine an ihnen vorbeigezuckelt war, konnten sie die
verdächtigen Männer nicht mehr sehen. Brobeil sehnte die Zwischenstation
herbei. Häberle blickte scharf beobachtend aus dem Heckfenster und sah, wie das
Zugseil in den Führungsrollen hüpfte und vibrierte und das Metall scheppern
ließ.
Wenig später kroch der Wagen in das kleine
Gebäude der Zwischenstation Suvigliana hinein. Brobeil, dessen Gesicht blass
geworden war, betrat sichtlich erleichtert wieder festen Boden. Doch als
Häberle sagte: »Da drüben geht’s weiter« und dabei auf die andere Straßenseite
deutete, wo die zweite und längere Etappe der Bergfahrt begann, da war’s mit
der Erleichterung schon wieder vorbei. Die beiden Männer nahmen sich keine
Zeit, um die Aussicht auf die Seen- und Berglandschaft zu genießen. Häberle
eilte über die Straße, stieg die paar Stufen zur Funiculare hinauf und reichte
dem Kassierer, der in einem Kassenbüro saß, durchs Fenster einen Geldschein.
Bergfahrten waren sündhaft teuer, dachte sich Häberle wieder mal. Nichts für
sparsame Schwaben.
Er steckte die beiden Fahrscheine in die
Tasche und ging zu dem Kabinenwagen, der bereits zur Abfahrt bereitstand. Auch
hier war das Letzte, also das am tiefsten gelegene Abteil leer. Während sie
einstiegen, bemerkte Häberle einen Mann, der ihnen auf dem mehrstufig, zum Hang
hin ansteigenden »Bahnsteig« langsam entgegenkam. Häberle schätzte, dass er so
alt sein dürfte, wie er selbst. Braungebranntes Gesicht, randlose Brille,
deutlich ausgedünntes blondes Haar, schon leicht angegraut. Auf den ersten
Blick nicht unsympathisch, dachte der Kriminalist und wandte den Blick wieder
von ihm ab. Er war sich ziemlich sicher, dass es jener war, den er vorhin im
Flur gesehen hatte.
Schon ein paar Sekunden später, stand der
Unbekannte den beiden Männern gegenüber, betrat das Abteil und blieb
demonstrativ an der Tür stehen, um andere Passagiere, falls denn welche kämen,
fernzuhalten. Er schaute Häberle und Brobeil nacheinander langsam an. Während
der Theologe seine Unsicherheit nicht verbergen konnte, tat der Kriminalist so,
als gehe ihn der Fremde nichts an. Konnte ja auch nur ein ganz normaler Tourist
sein, überlegte er und besah sich die Mechanik aus längst vergangenen Zeiten.
Der Fremde lehnte sich an eine der
Haltestangen, die an den Abteilseiten angebracht waren. Als die Tür einrastete
und sich die baldige Abfahrt durch metallische Geräusche und Ruckeln
ankündigte, räusperte sich der Mann. »Darf ich die Herren in Lugano willkommen
heißen?«, sagte er mit deutlich hörbarem Schweizer Akzent, der aber einen
US-amerikanischen Einschlag hatte. Das musste dieser Armstrong sein, schoss es
Häberle durch den Kopf.
Der Theologe schaute ihn von der Seite an.
Häberle hingegen drehte sich nur langsam um, während die Kabine unsanft anfuhr.
»Das dürfen Sie gerne«, erwiderte der
Kriminalist mit sonorer Stimme und hielt sich mit beiden Händen an der
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