Trugschluss
sich langsam einen
Politiker nach dem anderen an. Sein Blick hatte etwas Sorgenvolles. »Der
amerikanische Präsident ist davon überzeugt, dass es Massenvernichtungswaffen
gibt. Nur …«, der Minister überlegte kurz, »wenn es zu einem Angriff auf den
Irak kommen sollte, wird von uns eine eindeutige Position erwartet. Was dies
bedeutet, ein Vierteljahr vor der Bundestagswahl, das muss uns allen klar sein.«
Die meisten in der Runde nickten. Ein dicklicher Staatssekretär mit schmaler
Leserbrille verschränkte die Arme und lehnte sich zurück: »Zuerst Afghanistan
und jetzt der zweite Schritt … Ist sich dieser Rambo eigentlich bewusst, an
welchem Pulverfass er zündelt?«
Ein Bärtiger am oberen Ende des ovalen
Tisches spielte nervös mit einem Kugelschreiber. »Wir werden in eine Sache rein
gezogen, deren Ausgang unübersehbar ist.« Er sprach langsam und besonnen
weiter: »Was heißt ›Massenvernichtungsmittel‹? Hat sich das Pentagon oder das
Weiße Haus detailliert geäußert?«
Der Verteidigungsminister kniff die Lippen
zusammen und schüttelte bedächtig den kahlen Kopf. Dies löste ein Raunen in der
Runde aus.
»Der Bundeskanzler«, so fuhr er
schließlich fort, als sich die kurz aufgeflammten Gespräche unter den
Politikern wieder gelegt hatten, »der Bundeskanzler wünscht, dass das Thema in
der Öffentlichkeit vorläufig dezent behandelt wird.«
»Ha«, entfuhr es einem besonders dicken
Mann am Konferenztisch, »der hat Nerven! Eine Silbe und die Medien hängen uns
auf. Ausgerechnet wir Seite an Seite mit einem Kriegstreiber! Was glauben Sie,
was wir daheim von unseren Wählern zu hören kriegen! Wissen Sie überhaupt,
wie’s an der Basis zugeht?«
Der Verteidigungsminister holte tief Luft
und blickte zur großen Fensterfront des ansonsten schmucklosen Konferenzraumes.
Drüben vor dem Reichstag hatte sich die übliche Touristenschlange gebildet, die
geduldig darauf wartete, zur gläsernen Kuppel hochsteigen zu dürfen. Für einen
kurzen Moment war der Minister in Gedanken versunken, dann sagte er: »Trotz
allem müssen wir davon ausgehen, dass dem Pentagon und den Geheimdiensten
Erkenntnisse vorliegen, die das Weiße Haus beunruhigen.«
Wieder entstand ein Raunen. Der offenbar
Jüngste aus der Senioren-Runde verschaffte sich Gehör: »Das hat man uns bereits
mit Afghanistan gesagt. Bis heute ist mir nicht klar geworden, was in dem
angeblichen Stollensystem in den Bergen gefunden wurde. Osama bin Laden
jedenfalls nicht.«
Der Verteidigungsminister hob
beschwichtigend seine Hände und erklärte mit sonorer Stimme, jedes Wort
abwägend: »Der elfte September hat deutlich gemacht, wie verwundbar die Staaten
der freien Welt sind.« Er suchte sichtlich nach einer Formulierung. »Die
Gefahren lauern im Unsichtbaren. Glauben Sie mir das!« Seine Zuhörer schwiegen
betreten.
19
Lechtaler Alpen, Mittwoch, 11. September 2002.
Ein traumhafter September-Nachmittag. Die Lechtaler Alpen lagen in
schönstem Sonnenschein. Strahlend weiß hoben sich auf den Bergspitzen die
Schneefelder von dem tiefblauen Himmel ab. Die ›Göppinger Hütte‹, hoch über
Lech und Warth gelegen, 2245 Meter über dem Meer auf einem steinigen
Hochplateau, umgeben von einer bizarren Bergwelt aus mehreren Gipfeln, aus
einer atemberaubenden Felsenwüste, war an solchen Tagen beliebtes Ziel von
Wanderern und Kletterern gleichermaßen. Jetzt, inmitten des Bergsommers, hatten
die Alpenvereins-Hütten einen großen Ansturm zu verkraften. Die Wirte, die
meist nur ein Vierteljahr hier oben verbrachten, ein schnelles Frühjahr und
einen ebenso schnellen Übergang in den Winter erlebten, mussten innerhalb
weniger Wochen verdienen, was ihnen wieder monatelang zum Lebensunterhalt
reichen sollte. Die meisten von ihnen gingen jedoch im Winterhalbjahr drunten
im Tal einem anderen Job nach. Auch Peter Mathees, seit langem Wirt der
›Göppinger Hütte‹, war dann ein ganz anderer – nämlich Skilehrer. Im Laufe der
Jahre war er in die Aufgabe des Hüttenwirts hineingewachsen, war wortgewaltig
und ein bisschen knorrig, konnte für Ruhe sorgen und für Humor und hatte
gelernt, auf engstem Raum viele Gäste gleichzeitig zu bedienen. Längst kannte
er die unterschiedlichsten Mentalitäten. Die Schwaben, die aus lauter
Sparsamkeit sogar noch am liebsten ihr Kaffeewasser von daheim mitbringen
würden. Oder die Menschen aus dem Ruhrpott, die den Hüttenabend gelegentlich
mit einer Siegesfeier ›auf Schalke‹ verwechselten. Oder die
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