Trugschluss
dringendes Handeln für geboten. Die Zeit drängte, daran
bestand gar kein Zweifel. Es gebe eine neue Situation, hatte Abdul erklärt. Das
war für die beiden Deutschen unerwartet gekommen, schließlich hatten sie sich
erst gestern im Ulmer Maritim getroffen.
Und nun dieses forsche Auftreten. So
hatten sie ihn in all den Jahren noch nicht kennengelernt. Dass er schon wieder
auf ein Gespräch bestand, diesmal in einem rustikalen Lokal im idyllischen
Ulmer Fischerviertel, wo das Flüsschen Blau in die Donau mündet, das war den
beiden Deutschen nicht gerade gelegen gekommen. Doch Abdul und Ben Ali hatten
darauf gedrängt, weil ihnen offenbar von höchster Stelle schnelles Handeln
angeordnet worden war.
Die ›Lochmühle‹, in der sich eine
rustikale Gaststätte befand, schien der geeignete Ort zu sein, um nicht
sonderlich aufzufallen. Zwischen den vielen Touristen und Einheimischen, die
hier ihren Nachmittag verbrachten, wirkten die vier Personen wie
Städteurlauber, die sich ein paar Tage lang Ulm anschauen wollten. Braunstein
hatte vor ein paar Stunden angerufen und einen lauschigen Eckplatz bestellt,
ein bisschen abseits und geschützt vor fremden Ohren.
Es war ohnehin so laut in dem Lokal, dass
es unmöglich war, Wortfetzen von den Nebentischen aufzuschnappen. Die dicken
historischen Balken erinnerten an vergangene Zeiten, als diese altehrwürdigen
Gebäude im Fischerviertel noch ganz anders genutzt wurden. Heute waren derlei
Häuser geradezu ideal, um bei entsprechendem Ambiente schnuckelige Lokale
einzurichten. In Ulm hatte man diesen Trend schon vor mehr als zwei Jahrzehnten
erkannt und sich ihm erfolgreich angepasst.
Beliebt waren natürlich schwäbische Spezialitäten.
Maultaschen oder Linsen mit Spätzle, Zwiebelrostbraten oder Flädlessupp’. Den
beiden Arabern, äußerst korrekt gekleidet, schienen diese Speisen jedoch nicht
zuzusagen, weshalb sich jeder für einen großen Salat entschied. Braunstein, der
im khakifarbenen Freizeitlook gekommen war, ließ sich hingegen Linsen mit
Spätzle und einem Paar Saitenwürste munden; seine Begleiterin, die einen
eleganten Hosenanzug trug, aß ein schlichtes Schnitzel. Bei den Getränken
entschieden sich die Araber für Mineralwasser, die beiden Deutschen für Wein.
Auf den Tischen brannten Kerzen.
Die Atmosphäre mochte so gar nicht zu dem
dringenden Anliegen der beiden Araber passen. »Wir müssen noch diese Woche
handeln«, erklärte Abdul mit unverkennbar arabischem Akzent. Manuela Lilienthal
erschrak. Um nicht antworten zu müssen, nahm sie einen Schluck Wein. Ihr
Begleiter räusperte sich. »Sie können sich darauf verlassen. Die Vorbereitungen
laufen.«
»Diese Aussage reicht uns nicht«, fuhr
plötzlich Ben-Ali dazwischen, der auch in der Vergangenheit die Gespräche meist
schweigend verfolgt hatte.
Braunstein verengte die Augenbrauen. »Erwarten
Sie jetzt, dass ich Ihnen unsere Pläne ausbreite?«, fragte er und schaute sich
vorsichtig um.
Abdul schüttelte den Kopf und lächelte.
Doch es war ein gekünsteltes Lächeln. »Wir verlassen uns auf Sie – und auf die
anderen.« Natürlich war Braunstein längst klar, dass die beiden ein ganzes Netz
von Helfern aufgebaut hatten. Zu spaßen war mit denen nicht.
»Wir haben Erkenntnisse, dass es im Januar
losgehen soll«, erklärte Abdul und schob seinen leer gegessenen Teller zur
Kerze in der Tischmitte.
Braunstein nickte. »Und wann soll die
Aktion starten?«
»In dieser Woche brauchen wir Ihr ›okay‹.
Endgültig. Danach werden Tag und Sekunde festgelegt.«
Manuela blickte die beiden Männer
nacheinander an. Sie hatte plötzlich ein ziemlich mulmiges Gefühl.
Ben-Ali machte den Ernst der Lage
deutlich: »Und wer sich dazwischen stellt …« Er deutete vorsichtig die Geste
des Halsabschneidens an.
45
Die Gegenwart ist die Fortsetzung der Vergangenheit. So oder
ähnlich hatte Häberle mal etwas gelesen. Nun musste er es hautnah erleben. Beim
Blick in den Kofferraum dieses roten Passat-Kombis beschlich ihn das ungute
Gefühl, dreieinhalb Jahre in die Vergangenheit zurück versetzt worden zu sein.
Denn hier lagen die Nummernschilder, die sie damals krampfhaft und vergeblich
in halb Europa gesucht hatten. Kfz-Kennzeichen aus Lugano – und daneben ein
Plastik-Schraubverschluss. Wohin der nur gehören konnte, wurde dem Kommissar
mit einem Schlag klar: Zu jenem Benzinkanister, der damals neben der verkohlten
Leiche lag.
Wahrscheinlich starrte er viel zu lange
auf die Utensilien. »Ist was?«,
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