Try hard to love me / Versuch doch, mich zu lieben (German Edition)
das nicht auch dein Tagore? ‚Lang ist die Zeit, die meine Reise braucht und lang ist der Weg. Der erste Strahl des Lichtes, war der Wagen, auf dem ich aufbrach…“
„Wow“, sagte er mit seiner so leisen und sanften Stimme. „Letztes Mal wusstest du noch nichts von Tagore.“
„Das stimmt“, sagte ich. „Aber deine Liedstrophe war so berührend, dass ich mir die Gitanjali gekauft habe. Sie ist wirklich wunderschön.“
„Welcher Religion gehörst du an?“, fragte er.
„Keiner. An sich bin ich Katholik und ich finde den Grundgedanken des Christentums schön. Aber ich mag nicht, was die Kirchen daraus machen und ich mag nicht an einen rächenden, Sünden zählenden Gott glauben, der oben im Himmel sitzt und mir jede Minute meines Lebens klarmacht, dass ich „nicht würdig sei, einzugehen unter sein Dach.” Also bitte. Nee… das ist nichts für mich.“
Michael kicherte und richtete sich auf. „Und an was glaubst du dann?“
„An das Gegenteil. Dass jeder aus Gott gemacht ist. Die Weisen erklären es so, dass Gott explodiert ist und aus einem viele geworden sind. Der Urknall, wenn du so willst. Er hat sich sozusagen in die Formenvielfalt manifestiert. Und da er der Ursprung ist, muss ja alles aus ihm gemacht sein: Universen, Galaxien, die Erde, Pflanzen, Tiere, Menschen, eben alles, was existiert. Und das ist das, was ich versuche zu leben: Sieh Gott in jedem. Und in allem.“
Ich stockte und verstummte. Michael hatte sich - unwillig? – bewegt. Seine dunklen Augen sahen mich mit einem Ausdruck an, den ich nicht deuten konnte. Es war ohnehin finster hier draußen, aber sein Blick war so schwarz, so tief und ich konnte nichts in ihm lesen. Das passierte mir selten und machte mich unsicher.
„Michael“, entschuldigte ich mich. „Ich rede nicht gerne über solche Sachen, weil…weil das meine Auffassung ist, die niemand mit mir teilen muss...“
Doch Michael schienen meine Sätze aufgewühlt zu haben. Heftig sagte er:
„Ich glaube an Gott... oh, und wie ich an ihn glaube...aber...es gibt…böse Menschen, es gibt Menschen, die Freude daran haben, anderen weh zu tun, Menschen, die für Geld alles tun würden…ich weiß, Jesus hat gesagt, ‚liebe deine Feinde’...aber es ist... das ... scheint... eine ...schwierige Übung...“
„Das ist sie auch“, sagte ich leise und mir kamen all die unschönen Sachen in den Sinn, die ihm widerfahren waren, „aber ich denke, es muss irgendwo einen Sinn haben, dass man den Menschen begegnet, denen man begegnet... und dass sie das tun, was sie tun...ich meine...“
„Welchen Sinn sollte das haben?“, fragte er erregt. „Warum kann man nicht einfach in Frieden leben, warum können einen die Menschen nicht einfach in Ruhe lassen...?“
„Weiß nicht, vielleicht sind sie ja hier, damit wir irgendetwas kapieren...?“, antwortete ich und kam mir blöd vor, weil es sich so klischeehaft anhörte. Tonlos fragte er:
„Was? Wie man am besten mit Prügeln umgeht?“
„Nein! Vielleicht herauszufinden, warum man sie bekommt,“ entgegnete ich und sah ihn erstaunt an. Von seiner Ruhe, die ich bisher kennen gelernt hatte, war kaum noch etwas zu spüren. Er beherrschte sich sichtlich. Und diese Beherrschung und der frische Wind ließen ihn erbeben. Er zitterte. Er zitterte wie ein kleines Kind und ich hätte ihm am liebsten eine Decke um seine knochigen Schultern gelegt.
Die schwarzen Augen sahen mich an. Oh mein Gott, wie dunkel sie waren! So riesengroß in diesem blassen Gesicht! Mein Beschützerinstinkt machte einen gewaltigen Sprung nach oben - er musste es in meinen Augen gesehen haben und wich ein paar Zentimeter mit dem Oberkörper zurück. Und dann wieder vor. Ich spürte seinen Drang sich mitzuteilen, und dann...war da wieder Angst. Und sie war es, die letztlich überwog. Er blieb stumm.
Verstört lehnte ich mich mit dem Rücken an die Bank. Seine Ausstrahlung war so ambivalent. Er hatte etwas an sich, was ich auf meinen Reisen bei Meistern gespürt hatte, etwas Hohes, Erhabenes, Lichtes, aber daneben war auch dieser unendliche Schmerz, diese Qual, eine greifbare Sehnsucht nach einer anderen Welt. Ja, so fühlte er sich heute Nacht an: Wie jemand, der auf seine Heimkehr wartete, auf seine Erlösung von diesem Planeten.
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich wollte ihn auf all diese miesen Erlebnisse nicht ansprechen... oder war es genau das, was er brauchte? Mein Hirn rasterte gehetzt mögliche Gesprächsfortsätze ab, die alle sinnlos und
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