TS 04: Das endlose Schweigen
Seite. Der Mond befand sich hinter den Wolken, aber trotzdem reflektierte der Schnee ein wenig Helligkeit.
Dann sank er vor dem Radio in die Knie und schaltete das Gerät ein. Das schwache Licht der Zahlenskala leuchtete auf, und etliche Sekunden danach ertönte ein Summen. Noch vor anderthalb Jahren hätte er sich nichts bei dem Summen eines angestellten Radios gedacht, aber heute bedeutete es Leben für ihn, Leben außer ihm und den Hoffmanns.
Irgendwo jenseits des Flusses lebten Menschen, gesunde und normaleMenschen. Sie sprachen miteinander und erschlugen sich nicht wegen eines Stück Fleisches. Zivilisation gab es dort, Wärme und Nahrung.
Er drehte an der Welleneinstellung und hörte eine Frauenstimme. Sie sang ein langsames Lied voller Liebe, Sehnsucht und Treue. Die Melodie kam Gary bekannt vor, obwohl er sie noch nie gehört hatte.
Und mitten hinein erklang das sanfte Anschlagen einer Glocke.
Er zog die Stirn in Falten. Es war ihm, als gehöre dieser Laut nicht hierher, als verunstalte er das Lied.
Eine Glocke?
Er sprang auf die Füße und eilte mit wenigen Sätzen zur Tür, dabei nach seinem bereitstehenden Gewehr greifend. Im Nu war er draußen im Freien. Er hatte weder das Radio abgestellt noch die Tür hinter sich geschlossen. Leise spielte das Radio weiter, und das Mädchen sang ihr Liebeslied.
Sich im Schatten haltend, gelangte Gary an die Scheunenwand. Vorsichtig schob er den Kopf um die Ecke und starrte auf den Abhang. Zuerst konnte er nichts entdecken, bis er den dunklen Fleck auf dem hellen Schnee erkannte. Er bewegte sich langsam vorwärts.
Gary hob das Gewehr.
Hinter ihm in der Küche sang das Mädchen, und es sang jetzt nur für ihn, obwohl er es nicht zu hören vermochte. Wenn jetzt sein Schuß die Nachtstille unterbrach, würde sie nicht mehr für ihn singen, denn die Familie Hoffmann würde aufwachen, und eine ungeheure Erregung würde alle Besinnlichkeit und jede Erinnerung verscheuchen. Das aber wollte er nicht. Er wußte, daß sie unzählige Fragen stellen und es Stunden dauern würde, bis sie endlich wieder im Bett waren. Bis dahin würde das Mädchen im Radio verstummt sein.
Die dunkle Figur war ein Stück nähergekrochen.
Gary zog sich zurück und huschte in die Scheune. Sein Fuß stieß gegen etwas Hartes, und er bückte sich. Es war eine Eisenstange. Prüfend wog er sie in der Hand. Sie würde genügen.
Er schlich an den alten Platz zurück und wartete.
Verdammt, warum machte der Bursche nur so langsam?
* *
*
Lange Minuten danach stand Gary vor dem Problem, die Leiche fortzuschaffen. Er konnte sie nicht einfach hier liegen lassen, das würde wieder Aufregung und Unruhe hervorrufen. Also lud er sich den Körper auf die Schulter, nachdem er die Taschen vorher durchsucht hatte, und brachte ihn hinunter zum Fluß. Vielleicht würde man ihn hier später finden, wenn die Wellen ihn nicht im Frühjahr fortspülten.
Dann wandte Gary sich um und rannte zum Haus zurück.
Doch wenige Meter vor der offenen Tür warf er sich blitzschnell zu Boden und preßte sich gegen den hartgefrorenen Schnee. Die Mündung seines Gewehrs zeigte durch die offene Haustür in das Dunkel der Küche.
Der Fremde hatte eine tiefe, gleichmäßige Stimme. Eigentlich war sie viel zu gleichmäßig. Als ihm die Bedeutung seiner Beobachtung zum Bewußtsein kam, begann er, sich heftig zu verfluchen.
Er hatte das Radio vergessen.
Langsam stand, er auf, betrat das Haus und schloß die Tür hinter sich. Außer ihm befand sich niemand in der Küche.
Der Mann sprach noch immer.
Aber das Mädchen sang nicht mehr …
9. Kapitel
Mit einem Satz war er vor dem Radio und lauschte der monotonen Stimme des Ansagers:
„… verursachte die außergewöhnliche Kältewelle im westlichen Teil unseres Landes erneut ein tragisches Unglück. Ein vollbeladener Truppentransportzug stieß mit einem Güterzug in der Nähe von Laramie, Wyoming, zusammen. Die Zahl der Toten steht noch nicht fest. Der schwer verwundete Zugführer gibt an, der Schneesturm habe die Sicht stark behindert. Die Truppen waren auf dem Weg zur Mississippifront.
Wie soeben bekannt wird, ist der Nachschub an allen Fronten genügend gesichert. Es wird für viele Soldaten einen Weihnachtsurlaub geben, was im vergangenen Jahr nicht möglich war. Die höchsten Kommandostellen jedoch verweigern eine Verringerung der Truppen am Mississippi, da gerade dieser Frontabschnitt die größte Gefahr für unser Leben bedeutet. Im
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