TS 83: Der Mann, der ein Roboter war
Dr. Soltikow. Sie hatte die linke Wange auf die gekreuzten Arme gelegt und schaute den Humanoiden an, mit dem sie ein angeregtes Gespräch zu führen schien. Ab und zu stieg ihr Lachen perlend in den warmen Seewind.
Keith hatte sich in die Strandburg zurückgezogen. Die grellen Strahlen der Mittagssonne brannten beinahe das karierte Muster des Hemdes auf seinen Rücken. Im Augenblick beschäftigte ihn die unbestimmbare Anmut des liegenden Mädchens. Ihr schmaler, fast knabenhafter Körper schien ihm zerbrechlich zu sein wie ein kostbares Gebilde aus venezianischem Glas. Ihr Körper warf kaum einen Schatten in der grellen Sonne und erinnerte ihn seltsam deutlich an die zarte gelbe Orchidee auf Bettys Schreibtisch.
Erst wenn sich Joan bewegte, wenn unter ihrer braungebrannten samtigen Haut die Muskeln spielten, vermochte sich Keith vorzustellen, daß sie ihn, wenn sie Spaß daran hatte, spielend in die Luft werfen konnte.
Keith griff mit seiner Rechten in den weißen Sand und ballte sie zur Faust. Ein feiner Strahl der kleinen Körner floß zu Boden. Er drückte die Faust fester zusammen. Der Sand rann und rann, stetig und unaufhaltsam.
Wie die Zeit, dachte Keith. Auch die Zeit läßt sich nicht aufhalten. Was ist Zeit, wie lange dauert, wie schnell fließt sie? Die Stunden auf der Flucht, sie vergingen wie eine Sekunde. Der Augenblick, in dem Joan ihn begrüßt hatte, das frohe Aufleuchten ihrer Augen, alles wurde zu einem Bild in seiner Erinnerung, zeitlos und auf ewig eingegraben. Jederzeit würde er dieses Bild wieder hervorholen können.
Jedes Körnchen eine Stunde.
Ein paar davon blieben zurück in seiner Handfläche, in den Linien, von denen man sagte, sie bedeuteten das Leben. Diese Körnchen waren wie Stunden, die man wegwirft, weil sie nicht vergehen wollen.
Immer wieder glitten seine Augen zu Joan, immer wieder schob sich vor sein geistiges Auge die Vase mit einer leuchtend gelben Orchidee. Und gleichzeitig empfand er wieder jenes merkwürdige Bedürfnis, jene unstillbare Sehnsucht nach der Inkarnation der Wärme, die das Lebende darstellt. Keith fröstelte in den heißen Schwaden der Mittagsluft.
Nach Monaten der Einschränkung in den fortlaufenden Gleisen logischer Schlüsse erlebte er heute zum ersten Male diese gedankliche Assoziation, und sein Kopf war klar genug, es als außergewöhnliches Ereignis zu erkennen.
Joan erschien ihm im Augenblick unendlich fern und unerreichbar. Ein unüberbrückbarer Abgrund aus Zeit und Raum trennte sie von ihm. Nein, schlimmer noch. Wenn sie vor Tausenden von Jahren im Atair- oder Denebsystem gelebt hätte, wäre ihm seine Zuneigung nicht hoffnungsloser erschienen. Nicht Joan, er selbst mußte ein humanoider Roboter sein! Er bewunderte im stillen die Wärme, die anmutige Schönheit ihres Körpers, und fühlte sich selbst als kalte, leblose Maschine. Die Eifersucht auf Jerry war einem schmerzlichen Verständnis gewichen.
Keith versuchte einen klaren Kopf zu bewahren, aber der Gedanke hatte sich festgesetzt. Er mußte weitergedacht werden bis zu einem abschließenden Ergebnis, das in die Reihe der vorhandenen Fakten aufgenommen werden konnte.
Keith sammelte und ordnete sämtliche Für und Wider: den Unfall, die Folgen, die neuen Fähigkeiten, die Untersuchung seiner Hand, Satzfetzen, Andeutungen … Es war ein Wirrwarr. Aber als es geordnet war, gab es nur einen Schluß: Er selbst mußte ein humanoider Roboter sein.
Was er seit langem undeutlich gefühlt hatte, nach der Untersuchung seiner Hand jedoch verwerfen mußte, war zu einem Faktum geworden.
Keith war erstaunt, wie wenig ihn diese Folgerung berührte und legte dies gewissermaßen als Spitze auf den Berg von Argumenten, die für seine Eigenschaft als Monster sprachen.
Er fühlte plötzlich den Schweiß, der auf seiner Stirn stand und beschloß, sich im Wasser abzukühlen.
Jerry war gegangen, und Joan unterhielt sich intensiv mit dem Gehirnchirurgen.
Seine eigene gedankliche Kapazität und Leistung konnte nur ein positronisches Gehirn vom Typ 22 98 bewältigen, wenn nicht extra für ihn ein eigenes Gehirn geschaffen worden war; das vermochte Keith ziemlich genau abzuschätzen. Er erinnerte sich mit Unbehagen der Ironie, die ihn vor knapp fünf Stunden zu dem Archivar hatte sagen lassen, er sei ein 22 99.
Dr. Soltikow war zweifellos ein Genie, wenn er ein derart kompliziertes Gebilde, wie es das 98er Gehirn darstellte, an ein natürliches Nervensystem anzuschließen verstanden hatte. Allein die
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