Tuerkei - Ein Land jenseits der Klischees
deshalb für Kinder aus armen Familien eine der wenigen Möglichkeiten, zu Ruhm und Reichtum zu kommen. Profifußballer bei einem der großen Vereine zu werden, dürfte einer der häufigsten Jungenträume in den Vorstädten Istanbuls, Ankaras oder Izmirs sein. Noch einmal ist auch hierfür Ministerpräsident Tayyip Erdogan ein Beispiel. Der junge Erdogan war begeisterter Straßenkicker und ging dann in den Fußballclub seines Armenviertels, zu Kasimpasa Spor. Dort war er so erfolgreich, dass er einem Talentscout von Fenerbahce, einem der drei großen türkischen Vereine, auffiel. Er bekam das Angebot, in der Jugendmannschaft von Fenerbahce zu spielen und dort auf eine Profikarriere vorbereitet zu werden. »Hätte sein Vater damals zugestimmt und ihn zu Fenerbahce statt in die religiöse Imam-Hatip-Schule geschickt, wäre uns viel erspart geblieben«, sagen heute noch seine politischen Gegner wehmütig über Tayyips verpasste Fußballerkarriere.
Fußball ist, speziell in Istanbul, nach Politik und Religion, das dritte identitätsstiftende Moment im Leben vieler Türken. Vor allem die berühmten großen Drei haben Fangemeinden, die ein Leben lang mit ihrem Verein durch alle Höhen und Tiefen gehen. Wer einmal zum Fan von Fenerbahce, Galatasaray oder Besiktas wurde, bleibt meist immer Fan dieses Vereins. Am ehesten ist Besiktas noch so etwas wie ein Verein des gleichnamigen Istanbuler Stadtteils. Die schwarz-weißen Adler von Besiktas gelten noch am ehesten als Proletenclub, auch wenn das mit der Realität kaum noch etwas zu tun hat und Besiktas genauso kommerziell ist wie die beiden anderen Großen auch. Trotzdem sind Fenerbahce und Galatasaray die beiden größeren und finanziell besser ausgestatteten Clubs und entsprechend häufiger auch türkischer Meister.
Fan eines Vereins zu sein heißt immer auch Teil einer Gemeinschaft zu sein, innerhalb der die sonst wichtigen gesellschaftlichen Unterschiede nivelliert werden. Wie weit diese Fansolidarität gehen kann, ist erstaunlich. So hat beispielsweise Erdogan seine ersten Kontakte in die Welt der oberen Militärs auf der Zuschauertribüne von Fenerbahce geknüpft. Er wurde dort einem Ex-General vorgestellt, der eingewilligt hatte, sich sozusagen von Fan zu Fan zu treffen, obwohl beide aus völlig verfeindeten politischen Lagern stammen. Doch die gemeinsame Begeisterung für einen bestimmten Verein ist nicht nur in der hohen Politik und im Geschäftsleben nützlich, sondern kann auch im tristen Alltag sehr hilfreich sein. Ein Freund von mir, Mehmet, ist mit einer Ukrainerin verheiratet. Weil Russinnen, Ukrainerinnen und Frauen aus Moldawien in der Türkei automatisch unterstellt wird, sie seien »Nataschas«, also Prostituierte, die nur in die Türkei kämen, um dort etwas Geld zu verdienen, werden Ehen mit Frauen aus diesen Ländern besonders misstrauisch beäugt. Konkret unterstellt die Ausländerpolizei erst einmal, dass es sich um eine Scheinehe handelt.
Als Mehmet für seine Frau eine Aufenthaltsgenehmigung beantragte, wurde ihm deshalb mitgeteilt, die gäbe es erst, nachdem sich ein Beamter der Behörde in der gemeinsamen Wohnung der beiden davon überzeugt habe, dass es sich nicht um eine vorgetäuschte Verbindung handelt. Er solle auf den Besuch warten. Eine Voranmeldung gibt es nicht, man könnte ja sonst die Wohnung entsprechend arrangieren. Nun sind beide berufstätig und in der Woche tagsüber nicht zu Hause. Bei zwei Anläufen stand deshalb der Kontrolleur der Ausländerpolizei vor einer verschlossenen Wohnungstür. Normalerweise ist das das Aus für den Antrag bei der Ausländerpolizei. Die betreffende Frau kommt auf eine Schwarze Liste, der Beweis für eine Scheinehe gilt praktisch als erbracht. Völlig aufgelöst startete Mehmet einen letzten Versuch bei der Polizei.
Sein Vater kickte vor Jahrzehnten einmal bei Besiktas und hatte noch losen Kontakt zu seinem damaligen Trainer. Nach einem Telefonat sagte dieser Ex-Trainer Mehmet, er könne sich bei der Polizei auf ihn berufen. Allein die Erwähnung dieses ehemals prominenten Trainers, erzählte Mehmet später, habe bereits Wunder bewirkt. Der völlig abweisende Beamte sei ganz plötzlich höflich und zuvorkommend geworden. Tatsächlich bekam Mehmet einen Termin bei dem stellvertretenden Leiter der Ausländerpolizei. Und, oh Wunder, der Mann ist fanatischer Besiktas-Fan. Du glaubst es nicht, erzählte Mehmet noch Wochen später, in zehn Minuten hatte ich die Aufenthaltsgenehmigung für meine Frau.
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