Türkisgrüner Winter (German Edition)
echt Nerven hatte. Ich wusste noch nicht einmal, wo ich mich morgen sah.
Irgendwann gingen uns die Themen aus und wir verfielen in Schweigen. Inzwischen trank ich den vierten Becher Kaffee. Das Sitzen in der Besucherzone der Notaufnahme hatte etwas sehr Beklemmendes an sich. Andauernd herrschte wildes Treiben und ein trauriges Schicksal nach dem anderen wurde an uns vorbeigeschoben. Vorhin war es ein junger Mann auf einer Liege gewesen. Er hatte eine Plastikkrause um den Hals, war auf einer orangenen, mit Luft gefüllten Matte gebettet und ohne Bewusstsein gewesen. Das Gesicht verkratzt, die Kleidung blutverschmiert und zerrissen, der Unterkörper in eine goldene Rettungsfolie gewickelt. Offenbar ein Autounfall. Direkt hinter den Sanitätern war eine Frau gelaufen, vermutlich seine Freundin oder Schwester. Ihr Gesicht war verquollen und ihre Hände voller Blut. Mittlerweile saß sie zusammengekauert vor der großen Glastür und wimmerte vor sich hin.
Ich konnte nie länger als eine Sekunde zu ihr sehen und wünschte ihr von ganzem Herzen, dass ihr Freund oder Bruder wieder gesund wurde.
Leider war dieser Fall nur einer von vielen. Ständig wurden neue Patienten mit neuen Angehörigen im Schlepptau eingeliefert. Ich fragte mich, wie man tagtäglich hier arbeiten konnte, ohne daran kaputt zu gehen. Das Elend, mit dem man ständig konfrontiert wurde, musste einen doch früher oder später in die Knie zwingen. Ich erinnerte mich an das Gespräch mit Elyas im Park, als er mir von seinen zerrütteten Illusionen über den Beruf als Arzt erzählt hatte. Ich konnte mir Elyas in einer trostlosen Umgebung wie dieser gar nicht vorstellen – aber genau das würde irgendwann sein Alltag werden. Wahrscheinlich musste man mit der Zeit lernen, dass man abschalten und die Schicksale nicht allzu sehr an sich heranlassen durfte. Ich konnte mir beim besten Willen nicht ausmalen, wie das funktionierte und wäre wohl völlig fehl am Platz in diesem Beruf.
Mein Blick wanderte auf die große runde Uhr über der Glastür. 3:15 Uhr.
Vor ungefähr dreißig Minuten waren Jessicas Eltern eingetroffen. Ohne ihre Mutter ein einziges Mal vorher gesehen zu haben, hatte ich sie gleich anhand der ähnlichen Gesichtszüge erkannt. Die Eltern waren aufgebracht, vollkommen durch den Wind und gleichzeitig vor Schock wie gelähmt. Sie wohnten außerhalb Berlins und hatten eine längere Anfahrt hinter sich. Weil sie kein Handy besaßen, waren sie über den neuesten Stand noch gar nicht informiert. Ich klärte sie auf und schilderte ihnen danach noch einmal grob, was genau passiert war. Als ich ihnen ausrichtete, was Dr. Richter gesagt hatte, machten sie sich sogleich auf den Weg in den zweiten Stock. Vorher bedankte sich Jessicas Mutter noch mehrmals bei mir, auch wenn mir der Sinn dahinter nicht ersichtlich wurde. Aber sie wirkte so durcheinander, dass ich ihr nicht widersprechen wollte.
Die meiste Zeit war ich mit den Gedanken bei Elyas, fragte mich, wie es ihm ging und in welchem Zustand er sein würde, wenn er wieder hier unten eintraf. Ich suchte nach Worten, die ich ihm sagen könnte, mit denen ich ihn vielleicht ein bisschen aufmuntern könnte, aber etwas Brauchbares wollte mir nicht einfallen. Wie auch , dachte ich mir. Jessica hatte versucht, sich das Leben zu nehmen. Daran konnten selbst die besten aufbauenden Worte nichts ändern.
Ich erinnerte mich an den Unfall meiner Eltern und überlegte, was mir in dieser Situation am meisten geholfen hatte. Es waren keine Worte, keine Floskeln, kein gezeigtes Mitleid, es war einfach nur die Tatsache, dass Elyas für mich da war. Und genau das würde ich auch für ihn sein.
Ich zog die Beine an, stellte die Fersen auf den Rand der Sitzfläche, schlang die Arme darum und legte das Kinn auf die Knie. Wieder einmal rührte ein »Pling« vom Fahrstuhl her. Das Geräusch ertönte mindestens alle zwei Minuten. Genau wie die hundert Male zuvor sah ich auch jetzt zu den metallenen Türen und wartete, dass sie sich öffneten. Dieses Mal trat endlich die Person heraus, auf die ich gehofft hatte. Elyas‘ Haut war noch blasser geworden und die dunklen Schatten unter seinen Augen tiefer. Als er mich sah, zögerte er kurz, ehe er sein normales Lauftempo wieder aufnahm. Auch wenn es mir in der Situation unpassend erschien, schlug mein Herz immer schneller, je näher er uns kam. Ich wollte aufstehen und ihn in den Arm nehmen, aber der Ausdruck seiner Augen hielt mich davon ab.
»Du bist noch hier, Emely?«, fragte
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