Türkisgrüner Winter (German Edition)
damals.
Nur mit dem Unterschied, dass ich es heute besser hätte wissen müssen.
Warum …
Warum tat er so etwas?
Warum ging er so über Leichen?
Was hatte ich ihm denn getan?
»Emely?«, fragte Elyas.
Ich blinzelte. Die Umgebung um mich herum nahm langsam wieder Gestalt an. Für einen langen Moment sah ich Elyas tief in die Augen.
»Sag mir, dass das nicht wahr ist«, flüsterte ich.
Anstatt mir diese minimale, letzte Hoffnung zu erfüllen, sah er zu Boden.
Ich betrachtete sein Gesicht. Das Gesicht, das ich noch vor einer Stunde gestreichelt hatte. Das Gesicht, das sich so weich angefühlt hatte.
In Wahrheit hätte es scharf und kantig sein müssen. So sehr, dass man sich die Finger daran schnitt.
Warum sahen Menschen nicht so aus, wie sie in Wirklichkeit waren?
Warum sah man ihnen die innere Hässlichkeit nicht an?
Nichts im Leben schaffte es, einen so sehr zu täuschen, wie die eigenen Augen.
»Warum?«, flüsterte ich.
Er zog die Schultern nach oben und wandte den Kopf zur Seite.
»Weil ich ein Arschloch bin«, sagte er.
Genau das hatte ich immer gewusst. Die ganze Zeit. Ich war zu blind gewesen, um es zu sehen.
Ich fühlte mich erniedrigt. Bloßgestellt. Bis auf die Knochen gedemütigt. Fühlte mich kleiner als eine Maus und hätte mich am liebsten wie so eine verkrochen.
»Es tut mir so leid, Emely«, sagte er.
Fast hätte ich gelacht, aber letzten Endes wurde es doch noch nur ein verächtliches Schnauben. »Du bist so ein Lügner, Elyas.«
»Nein, Emely«, sagte er. »Hör mich bitte erst an, danach kannst du–«
»Halt den Mund!«, schnitt ich ihm das Wort ab.
Wie viel Frechheit konnte ein Mensch besitzen?
Wie dumm war ich gewesen, ihm auch nur einen Funken Vertrauen zu schenken?
Ich zuckte zusammen, als Alex plötzlich neben mir auftauchte und mir die Hand auf die Schulter legte. »Deine Wut ist vollkommen gerechtfertigt, Emely. Ich verstehe dich voll und ganz. Aber vielleicht solltest du dir trotzdem anhören, was er dir zu sagen hat.«
»Wie lange weißt du schon davon?«, fragte ich sie mit fester Stimme.
»Nicht lange«, sagte sie. »Ich habe es erst heute erfahren.«
»Danke, dass du es mir sagen wolltest. Ich weiß das sehr zu schätzen, Alex.«
»Na ja, ich …« Sie verstummte wieder und sah zu Elyas. Ich folgte ihrem Blick. Und je länger ich ihn ansah, desto schlimmer wurde das Gefühl, zu ersticken. Sogar die Wände um mich herum schienen immer näher zu kommen.
»Herzlichen Glückwunsch, Elyas«, sagte ich. »Du hast deine Sache gut gemacht. Ich bin dir voll auf den Leim gegangen.«
Ich hörte, wie meine Stimme versagte und wollte nur noch weg. Raus. Einfach nur raus. Ich wandte mich von ihm ab und verabschiedete mich von Alex. »Nein, Emely, warte!« sagte er, doch ich ignorierte ihn und lief aus der Wohnung. Kaum hatte ich die Schwelle passiert und die Tür hinter mir geschlossen, begann ich zu rennen. Stockwerk um Stockwerk. Ich rannte das Treppenhaus meines Lebens hinab. Immer weiter der frischen Luft entgegen. Ich achtete nicht auf meine Füße. Es war mir egal, ob ich stürzte. In diesem Moment war mir alles egal. Ich musste raus.
Als ich die zweite Etage erreichte, hörte ich eine Stimme hinter mir. Seine Stimme. Hörte, wie sie meinen Namen rief, hörte die Schritte, die schneller waren als meine. Ich rannte weiter. Noch hastiger. Er durfte mich nicht einholen.
Im ersten Stockwerk angelangt, wurden die Schritte immer lauter, kamen näher. Ich drehte mich kein einziges Mal um und beschleunigte noch mehr. Sobald ich auf der Straße wäre, würde ich in den nächsten Bus springen – gleichgültig, wo auch immer er hinfuhr.
Ich brachte die letzte Stufe im Erdgeschoss hinter mich. Die Schritte waren direkt hinter mir. Ich rannte auf die Haustür zu, doch noch ehe ich sie erreichte, spürte ich, wie sich Elyas‘ Finger um mein Handgelenk schlangen.
»Bitte, Emely, warte!«
»Lass mich sofort los!«, schrie ich und riss mich aus seinem Griff. Ich lief weiter, doch Elyas überholte mich, stellte sich vor die Haustür und breitete die Arme aus. Es gab keine Möglichkeit, an ihm vorbeizukommen, ohne ihn zu berühren. Ich stoppte und ballte die Hände zu Fäusten.
»Wann? Wann zum Teufel hättest du mir das sagen wollen?«, fragte ich.
»Ich … ich weiß es nicht.«
»Darf ich raten? Morgen früh, nachdem ich die Nacht bei dir verbracht hätte?« Ich schnaubte. »Du bist einfach nur ein riesengroßes berechnendes Arschloch.«
»Nein, Emely, nein.« Er
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