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Türkisgrüner Winter (German Edition)

Türkisgrüner Winter (German Edition)

Titel: Türkisgrüner Winter (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carina Bartsch
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noch ins Wanken gebracht. Sie hatte Recht gehabt. Meine geplante Abreise war nichts anderes als eine Flucht. Ich wollte vor etwas davonrennen, vor dem ich überhaupt nicht davonrennen konnte. Elyas würde immer bei mir sein, würde wie eine Gewitterwolke über meinem Kopf schweben und mich überallhin begleiten.
    Aber wenn ich dann wieder an seinen nächtlichen Anruf gedacht und mich die Gewissheit überkommen hatte, dass er sich nur ein paar Straßen von mir entfernt aufhielt, war jeglicher Zweifel an meiner Entscheidung wie ein Funken im Wind erloschen.
    Zum Glück , konnte ich jetzt im Nachhinein sagen. Denn es war das einzig Richtige gewesen, nach Neustadt zu fahren. Wahrscheinlich gab es in Zeiten, in denen es einem nicht gut ging, keinen besseren Ort als jene vier Wände, in denen man aufgewachsen war. Ein Stück heile Welt, auch wenn alles andere in Schutt und Asche lag.
    Ich konnte mich noch gut an den Moment erinnern, als ich vor fünf Wochen aus dem Zug gestiegen war und den Bahnhof von Neustadt betreten hatte. Es war mit keinem der vorangegangenen Male zu vergleichen. Zum ersten Mal seitdem die Sache mit Elyas passiert war hatte ich atmen können. Richtig atmen.
    Fast ununterbrochen von meinen Eltern umgeben zu sein, hatte seine Vor- und Nachteile. Oft wünschte ich mir Ruhe und mein Alleinsein zurück. Andererseits war ich in der ständigen Gegenwart von Menschen dazu gezwungen, mich zusammenzureißen, und konnte mich nicht so ausgiebig in meinem Elend suhlen, wie ich das eigentlich wollte. Das stellte sich nicht als Schaden heraus.
    Die meiste Zeit gelang es mir recht gut, die Maskerade aufrecht zu erhalten. In gewissen Momenten jedoch sah mich mein Vater auf eine Weise an, die mich an meinen schauspielerischen Fähigkeiten zweifeln ließ. Mein Vater war nicht der Typ, der jemanden auf seine Probleme ansprach und unentwegt bohrte. Vielmehr signalisierte er mit Blicken, dass er bemerkt hatte, dass etwas nicht stimmte, und überließ die Entscheidung, ob ich darüber reden wollte, mir selbst.
    Normalerweise fühlte ich mich schnell in die Enge gedrängt, wenn jemand von mir erwartete, dass ich mein inneres Befinden nach außen kehrte. Darin lag der Unterschied: Genau das erwartete mein Vater nicht. Seine dezente Art setzte mich nicht unter Druck und gab mir gleichzeitig das schöne Gefühl, dass ich Menschen um mich herum hatte, denen ich viel bedeutete und denen es nicht egal war, wie ich mich fühlte. Dafür war ich ihm sehr dankbar.
    Eigentlich hatte ich nicht geplant, auf das unausgesprochene Angebot meines Vaters einzugehen. Vor zwei Wochen war es aber dann doch anders gekommen.
    Ich hatte in meinem alten Bett gelegen, mir bis in den frühen Morgen die Nacht um die Ohren geschlagen und wieder mal kein Auge zugemacht. Schlaflosigkeit war wie eine Folter. Seit Wochen erwartete mich jede Nacht dasselbe, und in dieser trieb es mich fast in den Wahnsinn. Ich hatte die Decke zurückgeschlagen, mich wieder zugedeckt, hatte in einem Buch gelesen, es wieder weggelegt, hatte den Fernseher angeschaltet, hatte ihn wieder ausgemacht, war aufgestanden, herumgelaufen, hatte mich wieder hingelegt, hatte mich auf die linke Seite gedreht, auf die rechte, auf den Rücken, wieder zurück – und dann das Ganze von vorn. So ging das stundenlang. Ich dachte, ich würde gleich durchdrehen, dachte, ich müsste die Tapeten von den Wänden reißen und aus meiner eigenen Haut springen. Irgendetwas musste sich ändern. Irgendetwas musste passieren. So konnte es nicht mehr weitergehen, das wurde mir klarer als jemals zuvor.
    Es war morgens um Fünf, als ich aus dem Bett sprang, mir Klamotten überzog und im Flurschrank die Angelutensilien meines Vaters heraus kramte. Er staunte nicht schlecht, als ich damit bepackt vor ihm im Elternschlafzimmer stand und an seiner Zudecke zupfte. Auf diese Weise war er von seiner Tochter noch nie geweckt worden. Doch nachdem er dreimal geblinzelt hatte, dauerte es keine fünf Sekunden, ehe er die Decke zur Seite schlug und sich aus dem Bett schwang.
    »Wenn meine Tochter mich schon mal zum Angeln begleiten möchte, muss ich mich beeilen, bevor sie es sich wieder anders überlegt.« Mit diesen Worten schlüpfte er in die Hausschuhe und verschwand im Badezimmer.
    Genau deswegen liebte ich meinen Vater.
    Kaum eine dreiviertel Stunde später saß ich auf einer alten, morschen Holzbank an einem kleinen See, der mit Nebelschwaden bedeckt war. Die Gräser ums Ufer zierten noch die weißen

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