Türkisgrüner Winter (German Edition)
Raureifkristalle der Nacht. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, am Horizont in der Ferne dämmerte hellblau der Morgen. Ich trug zwei Pullover und eine dicke Jacke, trotzdem fror ich am ganzen Körper. Die frische Luft tat aber auf eine unbeschreibliche Weise gut und schaffte es, meine innere Unruhe ein bisschen abzumildern. Ich holte zwei Tassen aus dem Korb und goss mir und meinem Vater Kaffee ein. Während er sich im Bad umgezogen hatte, hatte ich uns welchen gekocht und in eine große rote Thermoskanne abgefüllt. Mit beiden Händen hielt ich das dampfende Getränk fest umschlungen und wärmte mir die Finger daran.
Mein Vater warf die Angel aus, klemmte sie in den Halteständer und setzte sich zu mir.
»Danke«, sagte er für den Kaffee.
»Gerne«, antwortete ich.
Für die nächste Stunde blieben das die einzigen Wörter, die zwischen uns fielen. Ich konnte mir auf der ganzen Welt keinen angenehmeren Menschen zum Schweigen vorstellen als meinen Vater. Früher hatten wir regelmäßig Ausflüge gemacht, waren Wandern gegangen, hatten Minigolf gespielt oder uns spontan in den Zug gesetzt und größere Städte angesehen. Seit meinem Umzug nach Berlin hatte sich aber vieles verändert. Oft dachte ich daran, wie schön es jetzt wäre, wenn ich einfach mit ihm ins Auto steigen und ziellos ins Grüne fahren könnte. Wir beide ganz allein, so wie damals. Und alles wäre nicht mehr so schlimm. Jetzt mit ihm hier auf der Bank zu sitzen, fühlte sich so vertraut an, dass es mir vorkam, als wäre ich niemals weg gewesen.
Irgendwann, mein Vater schenkte sich gerade die dritte Tasse Kaffee ein, begann ich ohne Vorwarnung zu erzählen. Die Worte sprudelten einfach aus mir heraus. Ich fing ganz am Anfang an, vor fast sieben Monaten, als Elyas und ich uns wiederbegegnet waren. Nur den Namen nannte ich nicht. Kein einziges Mal. Ich sprach immer nur von »dem Mann«. Ich schilderte meinem Vater, was in dem letzten halben Jahr zwischen ihm und mir vorgefallen war. Wie dieser Mann nur einer eindeutigen Absicht nachging und ich keinerlei Interesse an ihm hegte. Wie sich nach und nach unser Verhältnis änderte, oder dass ich zumindest davon ausging, es hätte sich etwas geändert. Erzählte meinem Vater von Elyas‘ fast täglichen Stalker-Besuchen, den ständigen nächtlichen Anrufen und nicht zuletzt von den anonymen E-Mails. Beschrieb ihm, wie ich immer mehr in ein Gefühlschaos geriet, bald nicht mehr wusste, wo oben und unten war und erkannte, dass viel mehr hinter ihm steckte als nur ein gut aussehender Blödmann. Ich erzählte von Elyas‘ Liebesgeständnis, das einen Großteil meiner Restzweifel ausräumte und mich dazu brachte, dass ich mich auf ihn einließ. Und wie letztlich, nicht einmal vierundzwanzig Stunden später, ans Licht kam, dass er mir diese Mails geschrieben hatte, dass alles nur ein mieses Spiel gewesen war und ich mir für meine eigene Dummheit am liebsten in den Hintern treten wollte.
Als ich mit meinem Monolog fertig war, fühlte ich mich mindestens zehn Kilo leichter. Karsten, mein Vater, hatte mich kein einziges Mal unterbrochen. Den Blick auf die Wasseroberfläche gerichtet, schwieg er auch weiterhin.
Nach einer Weile sagte er schließlich in ruhiger Stimmlage: »Warum sollte jemand so etwas tun, Emely?«
Ich hatte mit allem gerechnet. Am meisten mit »Sag mir, wo der Mistkerl wohnt und ich bringe ihn um!«. Aber die Variante, die mein Vater gewählt hatte, widersprach all meinen Erwartungen. Und so recht wusste ich auch gar nicht, was ich darauf erwidern sollte.
»Keine Ahnung«, murmelte ich. »Vielleicht macht es ihm Spaß?«
» Vielleicht ?«, wiederholte er. »Also bist du dir nicht sicher?«
Ich war mir doch sicher, oder? Ja, eigentlich schon. Also … glaubte ich. Ich blickte zu meinen Füßen, ließ die Schuhe aneinander stoßen und zuckte mit den Schultern.
»Nun gut«, sagte mein Vater. »Ich habe zwei Theorien. Möchtest du sie hören?«
Ich nickte. »Natürlich.«
»Die erste ist: Du hast wirklich das größte Arschloch kennengelernt, das auf diesem Planeten herumläuft.«
Na also, ich wusste es doch, mit meinem Vater konnte man über so etwas reden. Herrlich, wenn man sich so schnell einigen konnte. Auf ihn war eben Verlass.
»Oder aber«, fuhr er fort, »der Typ ist kein Arschloch, sondern der Inbegriff eines Idioten, der alles falsch gemacht hat, das man nur falsch machen kann.«
Ich spürte, wie sich meine Stirn in Falten legte. Ähnliche Worte wie diese hatte auch Alex
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