Türkisgrüner Winter (German Edition)
einfach ganz ruhig zu erzählen, was er sah. Er beschrieb die Musterung auf den Flügeln, wie perfekt sie gezeichnet wäre und wie schön die Braun- und Grautöne ineinander übergingen. Nach einer Weile linste ich doch durch meine Finger hindurch. Mein Vater redete weiter, zeigte auf den puscheligen Hintern, den das Insekt hatte, und fragte mich, ob ich die vielen Härchen sehen könnte. Ich nickte.
»Bestimmt fühlt sie sich ganz weich an«, sagte er. »Aber wenn wir sie anfassen würden, bekäme sie nur Angst.«
Nach und nach begann auch ich mir die Motte genauer anzusehen. Die winzigen schwarzen Beine, die Fühler und die schöne Musterung, von der mein Vater gesprochen hatte. So groß wirkte das Tier jetzt auf einmal gar nicht mehr. Und mit dem Arm meines Vaters im Rücken wusste ich, dass mir nichts passieren konnte.
Genau wie zu jener Zeit fühlte ich mich auch jetzt. Und wir sahen gemeinsam auf den See, wie wir damals der Motte nachgesehen hatten, als wir das Glas nach draußen getragen und sie in die Freiheit entlassen hatten.
»Emely?«, fragte mein Vater nach einer Weile leise.
»Ja?«
»Der Mann … Kann es sein, dass ich ihn kenne?«
Mir wanderte eine Gänsehaut über den Rücken und ich versteifte mich. »Was … Warum … Wie kommst du darauf?«
Er atmete ein, so als würde er etwas sagen wollen, doch dann schüttelte er den Kopf. »Ach, vergiss es. Woher sollte ich ihn denn kennen? So eine blöde Frage. Verzeih mir, ich werde alt.«
Ich behielt ein mulmiges Gefühl im Bauch zurück, auch wenn mein Vater nie wieder einen Ton davon erwähnte.
Nach diesem Ausflug waren wir beide noch zwei weitere Male angeln gegangen. Ich genoss es genauso wie beim ersten Mal. Über den Mann, der mir wehgetan hatte, wechselten wir keinen einzigen Satz mehr. Es reichte, wenn unsere Blicke sich kreuzten. Worte wurden dann überflüssig.
Mein Vater war nicht der einzige, mit dem ich viel unternahm. Auch mit Carla, meiner Mutter, verbrachte ich viel Zeit. Der Unfall hatte mir verdeutlicht, dass ich mich in den letzten Jahren zu sehr auf unsere Unterschiede konzentriert und dabei ein bisschen aus den Augen verloren hatte, was uns eigentlich alles verbindet. Diesen Fehler wollte ich nie wieder begehen.
Meine Mutter war ein äußerst engagierter Mensch. Gab es irgendwo eine Wohltätigkeitsveranstaltung, war sie die erste, die zur Stelle war. Mit hohen Geldspenden konnte sie nicht dienen, meine Eltern waren nie wohlhabend gewesen. Aber, so sagte sie, jeder von uns hat zwei gesunde Hände und einen festen Willen, mit dem wir viel erreichen können, wenn wir nur wollen.
Früher hatte sie sich auch politisch eingesetzt, aber nachdem sie sich mehrmals mit dem Bürgermeister angelegt hatte – das letzte Mal bei einer öffentlichen Veranstaltung vor Publikum –, hatte man sie aus der Partei geworfen. Das ging ihr noch immer gegen den Strich. Bis heute tat man gut daran, sie besser nicht auf dieses Thema anzusprechen.
Ich mochte den ausgeprägten Kämpferwillen meiner Mutter, genauso wie ihr großes Herz und ihr schier endloses Bedürfnis zu helfen. Jedes Jahr zu Weihnachten lief sie zur Höchstform auf. Es war, als würde zu dieser Zeit ihre Hilfsbereitschaft um das Doppelte heranwachsen.
Wir hatten Tage damit zugebracht, alle erdenklichen Sorten an Kuchen zu backen, um sie anschließend auf einem Benefiz in der alten Neustädter Grundschule zu verkaufen. Der Erlös ging an eine Stiftung, die sich um die letzten Wünsche krebskranker Kinder kümmerte. Meine Mutter organisierte mindestens zwei bis drei Veranstaltungen im Jahr, um diesen Verein so gut es ging zu unterstützen.
Aber damit war ihr Soll noch lange nicht erfüllt. Kaum war das letzte Stück Kuchen verkauft worden, hatte sie sich in ihr Auto gesetzt und sämtliche Spielzeughersteller im Umkreis von zweihundert Kilometern aufgesucht. Einen davon schaffte sie tatsächlich zu überreden, ihr zwanzig prallgefüllte Kartons aus dem Lager zu überlassen. Kurz nachdem der Deal stand, rief sie meinen Vater an und diktierte ihn mit dem Autoanhänger zum Fabrikgelände.
Wir brauchten ganze zwei Tage, um jedes einzelne Spielzeug in Geschenkpapier zu verpacken. Meine Hände sahen danach aus, als hätte ich Edward mit den Scherenhänden eine halbe Stunde lang die Hand geschüttelt. Im Anschluss brachten wir die Geschenke zu einem Kinderheim im Nachbarort. Die Betreuer kannten meine Mutter bereits bestens und hielten uns mit einem Strahlen die Eingangstür auf.
Nachdem
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