Türkisgrüner Winter (German Edition)
wir auch dahinter einen Haken gesetzt hatten, war es mit Plätzchen backen weitergegangen. Eine Woche lang, bis einschließlich gestern. Erst heute Morgen hatten wir die letzte Fuhre davon ins Neustädter Seniorenheim gefahren. Portioniert in kleine Serviettenbeutelchen, waren die Plätzchen eingepackt und übergeben worden.
All diese wohltätigen Sachen mit meiner Mutter zu tun lenkte mich nicht nur von meinen eigenen Problemen ab, sondern zeigte mir, dass es weitaus schlimmere als die meinigen gab. Ich konnte froh sein, dass meine Familie, meine Freunde und ich selbst gesund waren. Ich hatte kein Recht, in Selbstmitleid zu zerfließen. Mein Elend war kein Vergleich zu jenem, mit dem manch andere Menschen klar kommen mussten.
Beim Thema Freunde und Familie war der Gedanke an Alena und Ingo natürlich nicht weit. Ich hatte gehofft, dass ich den Aufenthalt in Neustadt auch dazu nutzen könnte, um die beiden regelmäßig zu besuchen. Leider waren sie aber zwei Tage vor meiner Ankunft nach Italien in die Toskana abgereist. Dort lebte eine Familie, mit der sie seit Jahrzehnten befreundet waren und die sie jeden Winter für längere Zeit besuchten.
Aber heute, an Weihnachten, würde ich die beiden endlich wiedersehen. Und immerhin blieben uns bis zu meiner Abfahrt auch noch ein paar wenige Tage, an denen wir Zeit miteinander verbringen konnten.
Mit angezogenen Knien saß ich auf der Fensterbank, blickte durch die Scheibe nach draußen und hatte all diese Erlebnisse der letzten Wochen Revue passieren lassen. Aus meiner alten Musikanlage klangen die leisen Töne von »My own Prison«, ein Lied von Creed.
Ich beobachtete die kleinen Schneeflocken vor dem Fenster, die durch die Luft wirbelten und weiße Bäume und Dächer zauberten. Es war der erste Schnee in diesem Jahr. So rein, so unschuldig, so friedlich. Ein unbeschwertes und zauberhaftes Treiben. So als würde die ganze Welt in Watte gepackt werden und nie wieder etwas Schlimmes passieren.
Die Menschen sprachen immer von einem weißen Winter, doch mein Winter war überschattet von der Farbe Türkisgrün. Egal was ich tat, meine Gedanken gehörten Elyas. Ich trug unsere Geschichte, unser Buch mit den zahlreichen Kapiteln mit mir herum, gleichgültig wo ich mich befand. Es war, als hätte es jemand beim Lesen einfach zugeschlagen und weggelegt. Genau mittendrin. Gerade, als es am Schönsten gewesen war.
Einerseits hatte sich so viel geändert, seitdem ich hier war, und doch hatte sich eigentlich überhaupt nichts geändert. Meine Gefühle für ihn waren die gleichen geblieben, mein Kummer nicht weniger geworden. Nur die Art und Weise, wie ich mit der Trauer umging, schwankte dann und wann.
Vor einer Woche hatte ich urplötzlich und wie aus dem Nichts heraus einen Hass für ihn entwickelt. Ich war so wütend gewesen, dass ich mir nichts sehnlicher gewünscht hatte, als ihm in der nächsten Sekunde über den Weg zu laufen und ihn mit allen Schimpfwörtern, die mein Repertoire hergab, zur Rede zu stellen. Ich hatte sogar mehrmals mein Handy in die Hand genommen, seine Nummer im Adressbuch schon herausgesucht, nur das letzte Drücken auf den Knopf zum Anrufen hatte ich nie fertiggebracht.
Dieser Zorn auf ihn, dieser Wunsch, ihn in Stücke zu zerreißen, hatte all meine Trauer in den Hintergrund rücken lassen. Ich hatte mich besser gefühlt, es war alles viel erträglicher geworden. Leider war die Wut aber bald verraucht und ich steckte schneller wieder in meinem Kummer, als mir lieb gewesen war.
Heute war es besonders schlimm. Denn heute vermisste ich ihn. Vermisste den Glanz seiner Augen, vermisste das verwegene Lächeln um seine Lippen und sehnte mich nach seiner sanften und doch leicht rauen Stimme. Ich wünschte mir, in seinen zu Armen liegen, seine Wärme zu spüren, seinen Geruch einzuatmen und seine Hände auf meinem Rücken zu fühlen.
Doch anstelle seiner weichen Lippen, die meine Schläfe küssten, spürte ich die kalte Fensterscheibe, an die mein Kopf sank.
Wenn Liebe oder Glück aus den Fingern glitt, konnte es einem nie wieder zurückgegeben werden. Es war für alle Zeit verloren. Man konnte neue Liebe und neues Glück finden, aber nie wieder das Gleiche.
Ich wollte kein neues Glück, ich wollte das alte zurück.
Zeit heilt alle Wunden , dachte ich verächtlich. Vielleicht war das auch tatsächlich so, zumindest solange, bis das nächste Arschloch kommt und alles wieder aufreißt.
Ohne Vorwarnung öffnete sich plötzlich die Zimmertür. Noch
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