Türkisgrüner Winter (German Edition)
anderes. Er hatte wirklich nicht gut ausgesehen. Aber weshalb?
Hier zu stehen und mir Gedanken darüber zu machen, ob ich Elyas gekränkt hatte, fühlte sich an, als würde eine völlig verquere Welt herrschen. Ich verstand mich nicht. Ich verstand ihn nicht. Um ehrlich zu sein, verstand ich überhaupt nichts.
Ich blickte auf die Tür, die zu seinem Zimmer führte.
»Emely?«, hörte ich die Stimme meiner Mutter rufen. Ich zuckte zusammen.
»Ja?«, fragte ich verzögert und lief auf die Treppe zu, damit ich sehen konnte, was sie von mir wollte. Sie stand vor der untersten Stufe und blickte zu mir nach oben. Ingo war direkt hinter ihr und half ihr in die Jacke.
»Wir gehen, Schatz. Der Schneesturm wird immer heftiger. Kommst du?«
Ich blickte zurück zu Elyas‘ Tür. Den ganzen Abend hatte ich auf Worte wie diese gewartet, hatte mir den Moment herbei gesehnt, an dem ich es endlich überstanden hätte. Doch jetzt, wo es so weit war, blieb das Gefühl der Erleichterung aus. Stattdessen kam es mir vor wie ein Fehler.
Mein Blick verschmolz mit seiner Zimmertür. Ich sah sie an, als würde sich dahinter der Anfang oder das Ende der Welt befinden.
»Emely!«, rief meine Mutter erneut.
Ich sah die Treppe hinunter und wieder zurück zur Tür.
Aber anderseits: Was sollte schon sein?
Womit sollte ich Elyas gekränkt haben?
Ich tat einen Fuß nach vorne und wieder zurück. Vor dieser Tür schien sich eine unsichtbare meterhohe Schwelle zu befinden, viel zu mächtig, als dass ich über sie hinüber klettern könnte.
»Emely!« Nun war es die Stimme meines Vaters.
»Ja, ich komme ja schon«, sagte ich. Verwirrt wandte ich mich ab und stieg Stufe für Stufe nach unten. Alle hatten sich vor der Haustür versammelt. Ich ging ins Wohnzimmer, packte meine Geschenke zusammen und verabschiedete mich von Ligeia, die zusammengerollt auf dem Sessel lag. »Sei nicht traurig morgen früh«, flüsterte ich ihr zu. »Alena und Ingo werden sich gut um dich kümmern.« Ich hauchte ihr einen Kuss auf den Kopf, verharrte an dieser Stelle und fuhr mit der Nase durch ihr weiches Fell. Sie roch nach ihm. »Mach‘s gut, meine Kleine«, sagte ich und begab mich zu den anderen, wo die noch viel größere Verabschiedung auf mich wartete. Immer wieder blickte ich die Treppe hinauf, hoffte, Elyas dort oben stehen zu sehen. Aber er tauchte nicht auf.
Als Alex mich in den Arm nahm, erzählte sie mir, dass sie morgen, am ersten Weihnachtsfeiertag, bei Sebastians Eltern zum Essen eingeladen wäre. Sie war furchtbar nervös. Ich sprach meiner besten Freundin gut zu und wünschte mir für sie, dass sie genauso herzlich aufgenommen wurde, wie Sebastian von Alena und Ingo.
»Gib mir Bescheid, wie es gelaufen ist«, sagte ich.
»Mach ich. Wird schon schief gehen. Irgendwie .«
»Ich will euch beide ja wirklich nicht unterbrechen«, sagte mein Vater, öffnete die Haustür und deutete nach draußen. »Aber wie ihr seht, wird das Wetter nicht besser.«
Ein eiskalter Windhauch wehte ins Haus und brachte ein paar vereinzelte Schneeflocken mit sich. Wir gingen nach draußen und Alena, die an der Haustür stehen blieb, rief meiner Mutter zu, dass sie anrufen solle, wenn wir gut zu Hause angekommen wären.
Der Schnee lag inzwischen einige Zentimeter hoch und mein Vater ließ den Tacho nicht höher als vierzig Stundenkilometer steigen. Ich schwieg während der Fahrt, blickte aus dem Fenster und hing meinen Gedanken nach.
Zuhause tätigte meine Mutter den versprochenen Anruf. Ich wünschte meinen Eltern eine gute Nacht und verkroch mich in mein Zimmer. Bis zum nächsten Morgen hatte ich immer noch kein Auge zugetan.
KAPITEL 13
Im Morgenlicht
Wenn etwas endete, so sagte man, blühte es in den letzten Zügen noch einmal vollends auf. Und es stimmte. Meine verbliebenen Tage in Neustadt wurden für mich zu einem Spätsommer im Winter.
Zu fünft verbrachten meine beiden Elternpaare und ich die Zeit miteinander, machten Ausflüge, besuchten Weihnachtsmärkte oder saßen stundenlang zusammen und sprachen über Gott und die Welt. Eigentlich hatte nur noch Alex gefehlt, und es wäre alles so wie früher gewesen.
Die kleine Ligeia wuchs mir von Stunde zu Stunde, die ich mit ihr verbrachte, mehr ans Herz. Zum Schluss hätte ich sie am liebsten in meinen Koffer gesteckt und mitgenommen. Es war schön zu beobachten, wie sie nach und nach ihre Angst mir gegenüber verlor und eines Abends, als wir im Wohnzimmer bei den Schwarz‘ saßen, sogar freiwillig auf
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