Türkisgrüner Winter (German Edition)
meinen Schoß gelaufen kam. Ich wusste, dass sie es bei Alena und Ingo gut haben würde, trotzdem fühlte ich mich beim Abschiednehmen, als wäre ich nach Elyas schon die zweite Person, die sie im Stich ließ.
Ich wollte diese letzten Tage in Neustadt festhalten, doch egal wie sehr ich versuchte mich daran zu klammern, sie glitten mir durch die Finger. Mein Spätsommer verging wie im Flug. Und schon bald war der Tag der Abreise gekommen.
Alena, die neben mir auf dem Fahrersitz saß und konzentriert auf die Straße sah, fuhr mich zum Bahnhof im Nachbarort, wo mein Zug nach Berlin auf mich warten würde. Mein Vater hatte einen Einsatz bei der Feuerwehr und meine Mutter nach dem Unfall noch immer Probleme, sich selbst hinters Steuer zu setzen. Deswegen hatte Alena sich angeboten. Aus dem Radio drang der uralte Klassiker »Hotel California«. Mein Blick ging durch das Seitenfenster, schweifte über die verschneiten Felder und den graublauen Winterhimmel.
Mit jedem Meter, den wir hinter uns brachten, kam ich wieder dem Ort näher, vor dem ich vor über sechs Wochen geflüchtet war. Mein Bett, mein Kleiderschrank mit der CD und dem Pullover, Elyas‘ unmittelbare Nähe, unsere Geschichte, die ich mit sämtlichen Plätzen und Umgebungen Berlins verband – all das wartete auf mich. Es fühlte sich an, als würde das Auto in die falsche Richtung fahren.
Leider blieb mir keine Wahl. Ich musste zurück. Zurück in mein Leben. Schon morgen stand die erste Schicht im Purple Haze an und bis zum Semesteranfang blieben nur noch wenige Tage.
Inzwischen hatte ich die Weihnachtsfeier, die Begegnung mit Elyas und das verwirrende Gespräch mit ihm so oft Revue passieren lassen, dass es mir vorkam, als hätte ich diesen Abend mindestens zehnmal erlebt. Ein Beigeschmack haftete daran, den ich nicht von der Zunge bekam. Sobald ich die Augen schloss, hörte ich wieder seine Stimme, hörte, wie er die Geschichte der Lady Ligeia vortrug und die Worte mit seinen weichen Lippen zum Leben erweckte. Ich wusste, dass ich diese Geschichte nie wieder mit einer anderen Stimme als seiner lesen könnte.
Ich erinnerte mich daran, wie ich vor einigen Monaten vor seinem Schreibtisch gestanden und das Buch von Edgar Allan Poe unter sämtlichen Zetteln hervorgezogen hatte. Wie Elyas es mir förmlich aus der Hand gerissen, es im Schrank verstaut und sich komisch verhalten hatte.
Warum erschlich er sich Informationen, wenn er sie nicht zu seinen Gunsten ausnutzte? Warum hatte er mir nicht erzählt, ein jahrelanger Fan von Poe zu sein und versucht, damit Eindruck bei mir zu schinden?
Andere, ähnliche Situationen schossen mir durch den Kopf, die ebenfalls keinen Sinn ergaben, wenn er mich wirklich nur hatte verarschen wollen.
Und was war mit den Mails? Jetzt, wo ich wusste, dass nicht alles darin gelogen war, könnte es bedeuten, dass auch andere Dinge der Wahrheit entsprochen hatten?
Ich seufzte. Fragen, auf die ich seit zwei Monaten keine Antwort fand, egal wie oft ich sie auch wälzte. Ein ewiges Rätsel, das seinen absoluten Höhepunkt darin fand, als Elyas und ich im Flur vor dem Badezimmer gegeneinander geprallt waren.
Was hatte er sich dabei gedacht? Erst verfolgte er mich bis zum Klo – wenigstens war ich jetzt nicht mehr die Einzige, die so etwas tat –, dann redete er haufenweise wirres Zeug, nur um letztlich gekränkt zu reagieren und mich stehen zu lassen, weil ich seine »Erklärung« als lächerlich deklariert hatte. Dabei fragte ich mich nur die ganze Zeit: Welche verfickte Erklärung?
Hatte ich irgendetwas verpasst?
So kam es mir zumindest vor. Denn vielmehr war es doch im Treppenhaus so gewesen, dass er mir etwas erklären wollte , ich ihn aber nicht wirklich hatte zu Wort kommen lassen.
»Meine Gründe haben sich verändert.«
Aber wenn das so war, warum hatte Elyas das Spiel mit Luca beharrlich weiter getrieben? Warum hatte er sich in den vergangenen acht Wochen nicht die Mühe gemacht, mir in Ruhe noch einmal alles zu erklären?
Und weshalb saß ich dummes Ding hier und machte mir ernsthaft Gedanken darüber, ob er doch etwas für mich empfinden könnte? Hatte ich denn immer noch nicht gelernt, was passierte, wenn ich das auch nur annähernd in Erwägung zog?
Mein Kopf sank gegen die kalte Fensterscheibe der Seitentür.
»Na, Emely?«, fragte Alena mit sanfter Stimme. »Du wirkst wieder so abwesend. Ist alles in Ordnung mit dir?«
Ich setzte mich wieder aufrecht hin. »Ich denke nur ein bisschen nach. So recht weiß ich
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