Tunnel - 01 - Das Licht der Finsternis
besaß. Nach einiger Zeit kamen sie an ein paar Holzscheunen und eingeschossigen Häusern vorbei, die wie kleine Bungalows aussahen und größtenteils aus dem Gestein herausgehauen waren. Auf ihrem Weg begegneten sie nur einer Handvoll von Leuten, die schwere Jutesäcke auf dem Rücken schleppten oder hoch beladene Karren schoben.
Die Gruppe lief hinter Mr Walsum her, der von der Straße abbog und in einen tiefen Graben hinabstieg, dessen Boden mit einer matschigen Lehmschicht bedeckt war. Der rutschige und heimtückische Schlamm klebte an ihren Schuhen und behinderte ihr Fortkommen, während sie dem gewundenen Verlauf des Grabens folgten. Kurz darauf öffnete sich der Graben zu einem ansehnlichen Krater am Boden der Höhle, und der Arbeitstrupp stellte sich neben zwei primitiven Steinbauten mit flachen Dächern auf. Die Jugendlichen schienen zu wissen, dass sie einen Moment warten mussten, und lehnten sich auf ihre Spaten und Kratzen, während Mr Walsum ein angeregtes Gespräch mit zwei älteren Männern begann, die aus einem der Gebäude herauskamen. Die Jungs unterhielten sich ebenfalls, rissen Witze und warfen Will, der etwas abseits stand, gelegentlich einen kurzen Blick zu. Schließlich setzte Mr Walsum sich wieder in Bewegung und humpelte in Richtung der Straße zurück, während einer der älteren Männer Will etwas zurief.
»Du kommst mit mir, Jerome. Ab in die Hütte.«
Der Mann hatte eine leuchtend rote, halbmondförmige Narbe im Gesicht. Sie begann direkt oberhalb seiner Lippe, führte über sein linkes Auge und seine Schläfe, teilte die schlohweißen Haare und endete irgendwo auf der Schädelrückseite. Doch viel beunruhigender fand Will das Auge des Mannes, das ständig tränte und eine gefleckte Trübung aufwies. Das Augenlid war dermaßen zerfetzt und ausgefranst, dass es bei jedem Wimpernschlag wie ein defekter Scheibenwischer über die Linse kratzte.
»Hier lang!«, bellte er, als Will seinem Befehl nicht direkt nachkam.
»’tschuldigung«, sagte Will rasch. Dann folgten er und zwei andere Jugendliche dem narbengesichtigen Mann in die erste Hütte.
Im Inneren der Hütte, die bis auf ein paar Gerätschaften in einer Ecke vollkommen leer schien, war es feucht und kalt. Die Jungen standen untätig herum, während der Mann mit seinen schweren Schuhen über den schlammigen Boden schabte, als würde er etwas suchen. Nach einer Weile begann er, leise zu fluchen, doch plötzlich stieß er auf etwas Festes – einen massiven Metallring. Mit beiden Händen zog er daran, bis eine dicke Stahlplatte sich laut quietschend vom Boden hob und den Blick auf eine etwa ein mal ein Meter große Öffnung im Boden freigab.
»Okay, ab nach unten.«
Die Jungen stellten sich auf und kletterten einer nach dem anderen eine feuchte und rostige Trittleiter hinunter. Als sie unten angekommen waren, nahm der narbengesichtige Mann die Laterne von seinem Gürtel und leuchtete damit in einen Tunnel, der mit Ziegelsteinen ausgekleidet war und in dem selbst die Jungen nicht aufrecht stehen konnten. Will sah, dass das Mauerwerk dringend nachverfugt werden musste, da an vielen Stellen der Mörtel herausgebröselt war. Will schätzte, dass der Tunnel seit vielen Jahrzehnten, wenn nicht seit Jahrhunderten in Gebrauch sein musste.
Der Boden des Tunnels war von einer etwa zehn Zentimeter hohen Brackwasserschicht bedeckt, doch es dauerte nicht lange, bis das Wasser über den Rand von Wills Schuhen schwappte, während er hinter den anderen hertrottete. Nach etwa zehn Minuten blieb der Narbenmann plötzlich stehen und drehte sich zu ihnen um.
»Hier drunter …«, wandte sich der Mann herablassend an Will, als würde er einem kleinen Kind etwas erklären, »hier drunter sind Bohrlöcher. Wir entfernen das Sediment, den Bodensatz … wir räumen sie wieder frei. Okay?«
Dann schwenkte er die Laterne im Kreis, um den Tunnelboden zu beleuchten, der mit kleinen, inselartigen Ansammlungen von Flint- und Kalksteinscherben verschlammt war, die aus dem Wasser ragten. Er wickelte mehrere Stücke Seil von seiner Schulter ab, und Will sah zu, wie jeder der Jungen ein Ende nahm und das Seil fest um seine Hüfte knotete. Das jeweils andere Ende befestigte der Narbenmann an dem Seil um seine Mitte, sodass sie wie eine Gruppe von Bergsteigern miteinander verbunden waren.
»Übergrundler«, knurrte der Mann, »wir wickeln das Seil um uns … und wir knoten es gut fest.« Will wagte nicht zu fragen, warum. Stattdessen nahm er das Seil, schlang es
Weitere Kostenlose Bücher