Tunnel - 02 - Abgrund
das die Bewohner der Rookeries, die nichts und niemanden jenseits der Grenzen des Viertels respektierten oder bewunderten. Bis zu diesem Moment hatte Sarah nicht die leiseste Ahnung gehabt, dass sie eine solche Berühmtheit war.
Plötzlich erinnerte sie sich an das Flugblatt, das sie noch immer in der Hand hielt, faltete es auseinander und betrachtete es. Die Tatsache, dass das grobe Papier an den Kanten eingerissen war, bemerkte Sarah nicht, da ihr Blick sofort auf ihren Namen am oberen Rand fiel: Man hatte ihn in einer kunstvollen, gestochen wirkenden Schrift innerhalb eines flatternden Wimpels abgedruckt, wie eine Fahne, die im Wind wehte.
Erneut betrachtete Sarah ihr Porträt in der Mitte des Blattes; der Künstler hatte ganze Arbeit geleistet und ihre Gesichtszüge treffend wiedergegeben. Um das Bild herum waberten stilisierte Nebelschwaden – vielleicht sollten sie auch die Dunkelheit repräsentieren – und bildeten einen ovalen Rahmen, begleitet von den vier Bildern in den Ecken des Papiers, die Sarah noch nicht hatte betrachten können.
Diese medaillonartigen Abbildungen waren genauso vollendet wie das eigentliche Bildnis: Eines zeigte Sarah, wie sie sich über die Krippe ihres Neugeborenen beugte; Tränen glitzerten auf ihrem Gesicht. Im Hintergrund stand eine schemenhafte Gestalt, von der Sarah annahm, dass sie ihren Ehemann darstellte. Er stand einfach nur da – genau wie damals, als ihr gemeinsames Kind im Sterben gelegen hatte.
Das nächste Medaillon zeigte Sarah mit ihren beiden älteren Söhnen, als sie sich mit ihnen aus dem Haus schlich, und das dritte Bild porträtierte ihren tapferen Kampf mit einem Kolonisten in einem zwielichtigen Tunnel. Auf der letzten Abbildung war eine riesige Phalanx von Styx zu sehen, die mit gezückten Sicheln eine fliehende Frauengestalt durch einen Tunnel verfolgten. Der Künstler hatte sich hier einige Freiheiten herausgenommen: In Wahrheit hatte es sich nicht so zugetragen, doch die Botschaft war eindeutig. Instinktiv knüllte Sarah das Flugblatt zusammen. Es war strikt verboten, die Styx in irgendeiner Art und Weise abzubilden – nur die Leute in den Rookeries wagten einen solchen Verstoß.
Sarah konnte es einfach nicht fassen. Ihr ganzes Leben … in fünf Bildern!
Sie schüttelte noch immer ungläubig den Kopf, als sie das leise Knirschen von Leder hörte und aufschaute. Der Anblick, der sich ihr bot, ließ sie erstarren.
Steife weiße Kragen und lange schwarze Mäntel, die im Licht der Straßenlaternen wogten. Styx. Eine große Patrouille, möglicherweise zwei Dutzend Soldaten. Sie beobachteten sie, reglos und schweigend, in einer lockeren Reihe von der gegenüberliegenden Straßenseite aus. Das Ganze hatte etwas von einer alten Wildwestfotografie: eine Gruppe von Revolverhelden in langen Mänteln, die zu Beginn einer Hetzjagd um den Sheriff herumstehen. Nur der Sheriff in diesem Bild sah nicht so aus, wie man es erwartet hätte.
Als Sarah genauer hinschaute, entdeckte sie eine kleinere Styx-Gestalt in der Mitte der ersten Reihe, die nun einen Schritt auf sie zumachte. Sofort erkannte Sarah, dass es sich um Rebecca handelte. Sie stand stolz und gebieterisch da, umgeben von einer ungeheuren Aura der Macht. Aber Rebecca war doch ein Mädchen im Teenageralter!
Wer zum Teufel ist sie wirklich?, fragte Sarah sich nicht zum ersten Mal. Ein Mitglied der sagenumwobenen Führungsschicht der Styx? Niemand der einfachen Kolonisten war den Styx jemals nahe genug gekommen, um herauszufinden, ob es diese Elite wirklich gab. Aber wenn Sarah einer Bestätigung ihrer Existenz bedurft hätte, brauchte sie nur geradeaus zu schauen – der Beweis stand direkt vor ihr. Wer Rebecca auch immer sein mochte, sie musste auf jeden Fall zur obersten Spitze der Styx-Hierarchie gehören.
Durch ein kurzes Kopfnicken gab Rebecca den Styx an ihrer Seite nun zu verstehen, sich nicht von der Stelle zu rühren. Als die Sprechgesänge andauerten, etwas gedämpft von den Mauern der Rookeries, verzog sie ihre Lippen zu einem leicht belustigten Lächeln. Dann verschränkte sie die Arme und musterte Sarah von oben herab.
»Wenn das kein würdiger Empfang ist«, rief sie Sarah zu und tippte ungeduldig mit dem Fuß auf. »Und, wie fühlt es sich an, so ein hohes Tier zu sein?«, fügte sie säuerlich hinzu.
Sarah zuckte nervös die Achseln; sie spürte sämtliche schwarzen Pupillen der Styx auf sich gerichtet.
»Ich hoffe, du hast es genossen, denn die Rookeries und der ganze Abschaum
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