Tunnel - 02 - Abgrund
durchgerungen hatte, zu der Stelle zurückzurennen, wo er die Gruppe zuletzt gesehen hatte, um von dort aus weiterzulaufen, während die Grenzer ihm auf den Fersen waren. Falls er sich tatsächlich dazu entschlossen hatte und falls die Styx ihn noch nicht erwischt hatten, bestand wenigstens eine winzige Chance, dass er noch am Leben war. Aber das waren verdammt viele Falls … Drake wusste, dass er sich an einen Strohhalm klammerte.
Natürlich kam ihm kurz der Gedanke, dass die Grenzer den Jungen bereits geschnappt hatten und ihn in diesem Moment folterten, um möglichst viele Informationen aus ihm herauszupressen. Eventuell erhielten sie dadurch eine vage Vorstellung davon, wo sich das Lager befand, aber es war ohnehin Zeit weiterzuziehen. Drake hätte es furchtbar bedauert, falls Will dieses Schicksal zuteil geworden wäre: Denn die Grenzer würden früher oder später alles aus ihm herausquetschen, was sie wissen wollten.
Im nächsten Moment hörte Drake, wie der humpelnde Cal erneut stolperte und einen Hagel schlitternder Steine über den Boden jagte. Zu viel Lärm! Das Geräusch hallte durch den Tunnel, und Drake wollte ihn gerade ermahnen, als ihm ein neuer Gedanke kam und ihn fast abrupt innehalten ließ. Drei neue Mitglieder im Team, drei neue Verpflichtungen … und alle zur gleichen Zeit! Ausgerechnet jetzt, wo die Grenzer wie Giftpilze aus dem Erdboden schossen. Was um Himmels willen hatte er sich nur dabei gedacht?
Er war doch kein umherziehender Heiliger, der die verlorenen Seelen rettete, die die Kolonie ausspuckte! Also was war dann der Grund gewesen? Eine verrückte Form von Größenwahnsinn? Was hatte er sich denn vorgestellt – dass die drei Jungen seine Privatarmee bilden würden, wenn es zu einem offenen Gefecht mit den Grenzern kam? Nein, das war lächerlich. Er hätte zwei der Jungen direkt wieder loswerden und nur einen behalten sollen – Will. Denn mit seiner berühmt-berüchtigten Mutter und seinen Kenntnissen von Übergrund hätte er vielleicht eine Rolle in Drakes Zukunftsplänen spielen können. Und ausgerechnet ihn hatte er nun verloren!
Cal stolperte ein weiteres Mal und fiel mit einem unterdrückten Stöhnen auf die Knie. Sofort blieb Drake stehen und wirbelte herum.
»Mein Bein«, meinte Cal entschuldigend, ehe Drake etwas sagen konnte. »Aber es geht schon wieder.« Im nächsten Moment rappelte er sich wieder auf und humpelte, stark auf seinen Spazierstock gestützt, weiter.
Drake dachte einen Moment nach. »Nein, so geht das nicht. Ich werde dich irgendwo verstecken müssen.« Sein Ton klang kalt und distanziert. »Es war ein Fehler, dich mitzunehmen. Ich habe zu viel von dir erwartet.« Sein ursprünglicher Plan hatte darin bestanden, Chester und Cal an strategisch günstigen Stellen zu platzieren, wo sie in einem Versteck auf Will warten und ihn abfangen konnten, falls er zufällig dort vorbeikam. Im Nachhinein betrachtet, hätte er Chester mitnehmen und Cal zurücklassen sollen. Oder beide.
Während Cal weiterhumpelte, wurde er von immer größerer Panik erfasst. Der Unterton in Drakes Stimme war ihm nicht entgangen und die damit verbundene Andeutung verdrängte jeden anderen Gedanken. Nur zu gut erinnerte er sich an Wills Worte, dass Drake niemanden mitschleppte, der nur eine Last war – und Cals Befürchtung, dass genau das nun eintreten würde, wuchs mit jedem Schritt.
Drake eilte weiter, und nach einer letzten, scharfen Kurve im Tunnel befanden sie sich wieder in der Großen Prärie.
»Bleib dicht hinter mir und dunkle deine Laterne ab«, befahl er Cal.
Nach ein paar Schritten blieb Will stehen und fragte sich, ob er vielleicht fantasierte. Aber das Ganze erschien so real. Um sich zu vergewissern, dass er nicht nur träumte, bückte er sich und hob einen Kieselstein auf. Er befühlte gerade dessen glatte, polierte Oberfläche, als ein leichter Windhauch sein Gesicht streifte. Sofort richtete er sich auf. Er konnte Wind spüren!
Entschlossen folgte er dem leicht abschüssigen Gelände und hörte schon bald ein plätscherndes Geräusch. Trotz der warmen Luft, die ihm entgegenwehte, spürte er, wie er am ganzen Körper plötzlich eine Gänsehaut bekam. Er wusste, was dieses Geräusch bedeutete: Wasser. Vor ihm lag eine große Wasserfläche … dort draußen in der Dunkelheit … unerkannt und Furcht einflößend … und sie schürte seine schlimmsten Ängste.
Mit winzigen Schrittchen wagte er sich weiter vor, bis die Kieselsteine einem anderen Untergrund wichen
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