Tunnel - 02 - Abgrund
Koprolithen beobachtet hatten.
Im nächsten Moment ertönte ein hoher, durchdringender Schrei.
Er weckte in Will den brennenden Wunsch, sich auf den Boden zu werfen und die Arme schützend über den Kopf zu halten. Doch das ging nicht – das Seil zwischen ihm und Elliott war unnachgiebig, zerrte ihn weiter in den schwarzen Nebel hinein und zu einem Anblick, von dem er instinktiv wusste, dass er ihn lieber nicht sehen wollte.
Elliott zog zweimal am Seil, und Will blieb abrupt stehen.
Ehe er sich’s versah, stand sie vor ihm. Sie winkte ihn langsam zu sich heran und beendete die Handbewegung mit einer Art tätschelnden Geste. Will nickte zustimmend: Sie wollte, dass er ihr äußerst vorsichtig und möglichst tief geduckt folgte.
Während sie vorwärts krochen, hielt Elliott regelmäßig ohne jede Vorwarnung inne, sodass Will mehrfach mit dem Kopf gegen ihre Schuhe stieß und sich sofort ein kleines Stückchen zurückzog, um ihr mehr Platz zu lassen. Doch diese kurzen Pausen dauerten nie lange, und Will vermutete, dass das Mädchen angestrengt lauschte, ob sich vielleicht jemand in ihrer Nähe befand.
Der Pechsturm schien ein wenig abzuflauen. Vor ihnen tauchten kurze Abschnitte des Hügels auf – diffuse Bilder der mondkraterartigen Landschaft. Wills Nachtsichtgerät setzte gelegentlich aus und zeigte ein elektrostatisches Flimmern, eine Art »Schneegestöber«, ehe es seinen Dienst wieder aufnahm. Diese kurzfristigen Aussetzer dauerten nur den Bruchteil einer Sekunde, erinnerten Will aber aus irgendeinem Grund an seine Mutter – oder Stiefmutter, wie er sich ständig ermahnen musste – und ihre rasende Wut, wenn ihr heiß geliebter Fernseher mal nicht ordnungsgemäß funktionierte. Will schüttelte den Kopf. Jene Tage waren so unbeschwert und sorgenfrei gewesen und so lachhaft belanglos.
Im nächsten Augenblick hörten sie wieder einen Schrei. Obwohl er aus einer gewissen Entfernung kam, war er nun viel deutlicher zu hören – was Elliot zu erschüttern schien. Sie warf Will einen angsterfüllten Blick über die Schulter zu. Ihre Furcht griff auf ihn über: Will spürte, wie die Angst wie eine eiskalte Woge durch seinen Körper jagte. Hinzu kam, dass er noch immer nicht wusste, warum sie diesen Ort überhaupt aufgesucht hatten.
Was war hier los? Was ging in ihr vor?
Will war verwirrt. Wenn es sich um eine weitere Hinrichtung gehandelt hätte, wie Chester und er sie im Krater beobachtet hatten, dann hätte das bestimmt nicht solch eine Reaktion bei Elliott hervorgerufen. Damals hatte sie mühelos die Nerven behalten, so beunruhigend jener Vorfall auch gewesen war.
Auf dem Bauch liegend krochen sie weiter, zogen sich Arm für Arm vorwärts, mit den Knien durch das Geröll, immer weiter die Anhöhe hinauf, bis ihnen der Sturm kräftiger ins Gesicht blies und winzige Windhosen um sie herum aufwirbelte.
Die kohleschwarze Wolke des Pechsturms lichtete sich ganz allmählich.
Schließlich erreichten sie den Rand des Kraters.
Elliott hatte das Gewehr bereits im Anschlag.
Sie murmelte etwas, aber ihre Worte wurden durch das dichte Tuch über ihrem Mund gedämpft. Ungeduldig zog sie es herunter und presste die Wange hart gegen den Gewehrkolben. Will bemerkte, dass sie zitterte – der Lauf der Waffe schwankte hin und her. Das sah ihr überhaupt nicht ähnlich. Warum? Was stimmte hier nicht?
Das ging ihm alles viel zu schnell.
Will versuchte, einen Blick auf die Szenerie vor ihnen zu werfen, und wünschte inständig, er hätte das Ersatz-Zielfernrohr mitgenommen.
Erneut flackerte ein elektrostatisches Flimmern über die Linse auf seinem rechten Auge, doch dann zeichnete sich ein Bild ab: Mehrere große Leuchtkugeln auf Stativen waren über den Krater verteilt, und ziemlich viele Leute liefen umher, allerdings in zu großer Entfernung, um irgendwelche Details erkennen zu können. Dunstige Staubwolken schoben sich immer wieder zwischen Will und den Schauplatz, wie willkürlich geschlossene Vorhänge, die sich manchmal kurz lüfteten und einen Blick auf die Szenerie freigaben oder sie vollständig verhüllten.
Will konnte nicht länger reglos liegen bleiben. Vorsichtig schob er sich näher zu Elliott heran und wickelte dabei das Seil auf, das sie noch immer verband.
»Was ist los?«, wisperte er.
»Ich glaube … ich glaube, da unten ist Drake«, murmelte sie.
»Dann lebt er also noch?«, stieß Will begeistert hervor.
Als sie nicht reagierte, erlosch sein anfänglicher Optimismus.
»Sie halten ihn
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