Tunnel - 02 - Abgrund
Kater!«, murmelte sie und bedachte ihn mit allen nur erdenklichen Flüchen. Bei seiner Geschwindigkeit hatte er in der Zwischenzeit bestimmt schon eine ziemliche Strecke zurückgelegt, und sie würde sich selbst bloß etwas vormachen, wenn sie glaubte, es bestünde auch nur die geringste Möglichkeit, ihn einzuholen. Sie hatte ihre einzige Chance vertan, Will und Cal zu finden. »Verdammter Kater«, wiederholte sie, niedergeschlagener dieses Mal, und lauschte auf das Geräusch der Wellen. Damit blieb ihr nichts anderes übrig, als sich an den Strand zu halten, in der Hoffnung, dass sie trotzdem noch an ihr Ziel gelangen würde.
Sarah rappelte sich auf und verfiel in einen Trab. Dabei hoffte sie inständig, dass Will nicht eine völlig andere Richtung eingeschlagen hatte als die, in die Bartleby weitergelaufen war. Falls er einen anderen Weg durch die dichte Wand aus Blattwerk zu ihrer Linken gewählt hatte, würde sie ihn nie finden.
Eine halbe Stunde später wurde das gleichmäßige Schlagen der Wellen von einem lauten Wasserrauschen abgelöst. Sofort erinnerte Sarah sich daran, was sie auf der Landkarte gesehen hatte: Es gab in der Nähe eine Art Verbindungsdamm zu einer Insel. Während sie auf das Meer zuhielt, nahm das Geräusch des brausenden Wassers immer mehr zu.
Sie hatte den Damm schon fast erreicht, als wie aus dem Nichts eine Gestalt direkt vor ihr auftauchte. Erschreckt fuhr sie zusammen. Sarah erkannte, dass es sich um einen Mann handelte. Mittlerweile befand sie sich auf dem offenen Strand, ohne jede Deckung weit und breit, und sie hatte keine Ahnung, woher er so plötzlich gekommen war. Vor lauter Schreck riss sie das Gewehr ungeschickt von der Schulter und ließ es dabei versehentlich fast zu Boden fallen.
Dann hörte sie ein raues, nasales Lachen und blieb reglos stehen, das Gewehr schützend vor den Körper gehalten. Der Mann war ihr ohnehin zu nah, um es anlegen zu können.
»Na, was verloren?«, sagte er mit einer Stimme, die von Verachtung nur so troff. Er machte einen Schritt auf sie zu, worauf Sarah die Lampe ein wenig hob. Im dämmrigen Lichtschein konnte sie das zerfurchte Gesicht mit den tief in den Höhlen liegenden Augen erkennen.
Es war ein Grenzer.
»Nachlässig, äußerst nachlässig«, sagte er und drückte ihr grob ein Seil in die Hand … mit einer Schlaufe daran.
Sarah zitterte vor Angst und wusste nicht, womit sie als Nächstes rechnen musste. Im Zug, als Rebecca bei ihr gewesen war, hatte die Sache anders ausgesehen. Aber hier draußen fand sie keinen Gefallen an der Vorstellung, allein mit diesen Monstern zu sein, vor allem, da sie etwas getan hatte, was ihr Missfallen erregte. In dieser dunklen Wildnis machten die Grenzer ihre eigenen Gesetze. Sarah schoss der Gedanke durch den Kopf, dass er ihr ein Seil in die Hand gedrückt haben könnte, um sie daran zu erhängen. Trieben sie eine Art Spiel mit ihr? Vielleicht waren sie im Begriff, sie hinzurichten, weil sie sie als inkompetent und als Belastung betrachteten. Und das konnte sie ihnen nicht einmal verübeln – bis jetzt hatte sie alles falsch gemacht.
Doch in diesem Fall war ihre Furcht unbegründet. Hinter den Beinen des Grenzers schob Bartleby sich langsam ins Licht; das andere Ende der Leine war fest um seinen Nacken gebunden und durch einen fachmännischen Knoten gesichert. Der Kater wirkte völlig zerknirscht und hatte den Schwanz eingekniffen. Sarah wusste nicht, ob der Grenzer ihm eine Tracht Prügel verpasst hatte, aber was immer er mit ihm gemacht hatte, der Kater war sichtlich zu Tode verängstigt. Bartleby schien wie ausgewechselt: Als Sarah ihn zu sich heranzog, leistete er nicht den geringsten Widerstand.
»Ab hier übernehmen wir«, erklang eine andere Stimme direkt hinter ihr. Als Sarah herumwirbelte, erblickte sie eine Reihe schemenhafter Gestalten hinter sich – die anderen drei Mitglieder der Grenzer-Patrouille. Obwohl sie die Soldaten mindestens einen halben Tag lang nicht einmal von Weitem gesehen hatte, mussten sie ihr ständig auf den Fersen gewesen sein. Nun verstand Sarah, warum sie zu Recht den Ruf trugen, förmlich unsichtbar zu sein – sie bewegten sich wirklich wie Phantome. Und dabei hatte Sarah geglaubt, sie wäre gut im Tarnen.
Beklommen räusperte sie sich. »Nein«, setzte sie eingeschüchtert an und schaute auf den Damm im aufgewühlten Wasser. Ihr war jede Blickrichtung recht, solange sie den toten Augen der Grenzer nicht begegnen musste. »Ich bringe den Jäger auf die Fährte
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