Tunnel - 02 - Abgrund
abgetrennt, die wahrscheinlich der Schulter entsprach. Während Dr. Burrows das Bein betrachtete, schnappte es plötzlich noch einmal mit solcher Kraft zu, dass es sich im Sand überschlug. Es bewegte sich, als besäße es einen eigenen Willen, und soweit Dr. Burrows es beurteilen konnte, war das auch durchaus möglich.
Hustend und keuchend wich er vor dem abgetrennten Körperteil zurück, rappelte sich auf und schwankte benommen, während sein Atem sich langsam beruhigte. Dann schaute er sich besorgt um, da er noch immer fürchtete, die Spinnentiere könnten sich jeden Moment auf ihn stürzen.
Doch von ihnen war keine Spur mehr zu sehen, genauso wenig wie vom Inneren des Tempels – um ihn herrschte völlige Stille.
Sein Kopf war noch vom Sturz benommen, und er hatte Mühe zu verstehen, was passiert war. Es schien, als wäre er an einen völlig anderen Ort versetzt worden.
»Wo zum Teufel bin ich hier?«, murmelte er, beugte sich nach vorn und stützte die Hände auf die Beine. Nach einer Weile fühlte er sich besser und richtete sich auf, um seine Umgebung zu erkunden. Er erinnerte sich daran, wie das Relief unter seinem Gewicht umgeschlagen war, und binnen weniger Sekunden gelang es ihm, das Geschehene zu begreifen. Nun verstand er, was für ein unglaubliches Glück er gehabt hatte, und begann zu zittern.
»Oh, danke, danke!«, murmelte er wieder und wieder, faltete die Hände zu einem kurzen Gebet und weinte Tränen der Erleichterung.
Sekunden später erfüllte erneut ein warmer Sprühregen die Luft. Die Flüssigkeit stank, verbreitete den bitteren Geruch von etwas Unangenehmem, Unmenschlichem und ließ Dr. Burrows würgen. Hektisch sah er sich um, um festzustellen, woher der Gestank kam.
Etwa zwei Meter über dem Boden ragten die glänzenden, übel zugerichteten Reste einer Milbe aus der Wand. Offenbar war das Tier von dem zurückschwingenden Relief zerquetscht worden. Eine bläuliche, transparente Flüssigkeit sickerte und pulsierte aus mehreren durchtrennten, dicken röhrenartigen Gefäßen. Während er zuschaute, spritzte ein weiterer Schauer Flüssigkeit heraus und ließ ihn erschreckt zurückfahren. Es schien ihm, als öffneten sich die Ventile einer sonderbaren Maschine, um den Druck aus dem Inneren abzulassen.
Plötzlich fiel Dr. Burrows ein, dass der Kopf der Milbe vielleicht gar nicht weit entfernt lag und höchstwahrscheinlich noch funktionsfähige Mundwerkzeuge besaß – zumindest dem abgetrennten Bein nach zu urteilen, das weiterhin auf- und zuschnappte.
Aber er hatte nicht vor, noch länger zu bleiben und es herauszufinden.
»Du alter verdammter Narr, du hättest da drin fast den Löffel abgegeben!«, schimpfte er mit sich, während er rasch davonstolperte. Er wischte sich das Gesicht mit dem Ärmel ab und sah, noch immer ein wenig benommen, eine Treppe vor sich, deren breite Stufen sanft durch einen Gewölbegang in die Tiefe führten. Breite Stufen … viele Stufen, die er nun hinunterging, während er weiterhin zusammenhangslose Dankesgebete vor sich hin murmelte.
40
Sarah hockte niedergeschlagen am Strand, die Knie bis zum Kinn hochgezogen, und umklammerte ihre Beine. Sie hatte es aufgegeben, sich zu verstecken, und ihre Lampe auf die höchste Stufe gestellt. Gemeinsam mit Bartleby starrte sie auf die anrollenden Wellen, die sich am Ufer brachen.
Sie hatte getan, was die Grenzer ihr befohlen hatten, und war den Strand entlanggegangen. Sie wusste, dass dieser Befehl nur einen Zweck hatte: sie aufs Abstellgleis zu schieben.
Unterwegs war ihr aufgefallen, dass Bartlebys Zielstrebigkeit merklich nachgelassen hatte – nun, da er keiner frischen Fährte mehr nachspüren konnte. Aber sie konnte ihm nicht länger böse sein wegen der Art und Weise, wie er sich verhalten hatte: Die Beharrlichkeit, mit der er seinem Herrchen gefolgt war, hatte etwas Rührendes. Sarah hielt sich immer wieder vor Augen, dass dieser Jäger Cals Gefährte gewesen war – tatsächlich hatte das Tier mehr Zeit mit ihrem Sohn verbracht als sie selbst, und dabei war sie doch seine Mutter!
In einer plötzlichen Anwandlung von Zuneigung beobachtete sie, wie sich Bartlebys riesige Schulterblätter hoben und senkten, während er um sie herumstrich. Auf der Jagd hatten sie sich geschmeidig unter seiner lockeren, haarlosen Haut bewegt, doch jetzt standen sie knochig hervor, weil er den Kopf tief über dem Boden hängen ließ. Obwohl Sarah seine Augen nicht sehen konnte, schien er keinerlei Interesse an seiner
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