Tunnel - 02 - Abgrund

hinunter geschickt hatte. Allerdings schien er größte Bedenken zu hegen, während er steif und äußerst bedächtig die Leiter hinabkletterte.
    Es war ein langer Abstieg, und die Leiter zitterte und ächzte bei jedem Schritt bedenklich, als hätten sich mehrere Befestigungen gelöst. Schon bald waren die Hände der Jungen von Rost überzogen und so trocken, dass sie sich mit aller Macht darauf konzentrieren mussten, nicht den Halt zu verlieren. Je tiefer sie kamen, desto mehr ließ der Wind nach. Trotzdem bemerkte Will nach einer Weile, dass er Cal über sich weder sehen noch hören konnte.
    »Alles okay?«, rief er nach oben.
    Keine Antwort.
    Er wiederholte die Frage, dieses Mal lauter.
    »Alles okay«, ertönte die widerwillige Antwort von Chester unter ihm.
    »Dich meine ich nicht, du Stoffel. Ich mache mir Sorgen um Cal.«
    Während Chester irgendetwas vor sich hin murmelte, sauste plötzlich Cals Gehstock an Will vorbei und überschlug sich mehrfach auf dem Weg in die Tiefe.
    »Oh, Gott!«, schrie Will. Einen schrecklichen Moment lang glaubte er, sein Bruder wäre abgerutscht und würde dem Stock jeden Augenblick folgen. Erschrocken hielt er den Atem an und wartete. Seine Sorge war zwar unbegründet, doch von Cal fehlte weiterhin jede Spur. Will beschloss, lieber selbst nachzusehen, was mit ihm war, und kletterte wieder ein Stück hinauf. Nach wenigen Metern stieß er auf Cal, der sich mit beiden Armen an der Leiter festklammerte und nicht von der Stelle rührte.
    »Du hast deinen Stock fallen lassen. Was ist los?«
    »Ich kann das nicht …«, stieß Cal hervor. »Mir ist schlecht … lass mich einfach einen Moment allein.«
    »Tut dein Bein weh?«, fragte Will, dem der nervöse Ton in der Stimme seines Bruders Sorgen bereitete. »Oder ist es wegen Sarah? Was ist los?«
    »Nein. Mir ist bloß … mir ist schwindlig.«
    »Verstehe«, sagte Will, als ihm dämmerte, was Cal Probleme bereitete. Da der Junge sein ganzes Leben lang in der Kolonie verbracht hatte, war er es nicht gewohnt, sich in großen Höhen zu bewegen. Bereits in Übergrund hatte es Anzeichen für Cals Höhenangst gegeben. »Es gefällt dir nicht, hier oben zu sein, oder? Die Höhe macht dir Probleme, stimmt’s?«
    Cal nickte stumm.
    »Okay, vertrau mir einfach, Cal. Ich möchte zwar nicht, dass du runterschaust, weil dir schwindlig werden könnte, aber wir sind schon fast unten … Ich kann Elliott bereits sehen.«
    »Bist du sicher?«, fragte Cal, ein wenig argwöhnisch.
    »Absolut. Komm schon.«
    Das Täuschungsmanöver funktionierte etwa dreißig Meter lang, bis Cal wieder innehielt.
    »Du lügst. Wir müssten längst da sein.«
    »Nein, ehrlich, jetzt ist es nicht mehr weit«, versicherte Will ihm. »Und schau nicht nach unten!«
    So ging es einige Male weiter, wobei Cal immer misstrauischer und ärgerlicher wurde, bis Will tatsächlich den Boden erreichte.
    »Touchdown!«, verkündete er.
    »Du hast mich angelogen!«, schimpfte Cal, während er von der Leiter stieg.
    »Ja schon, aber es hat funktioniert oder etwa nicht? Jetzt hast du wieder festen Boden unter den Füßen«, erwiderte Will und zuckte die Achseln. Er war froh, dass es ihm gelungen war, seinen Bruder zu überreden, ihm nach unten zu folgen, auch wenn er dafür zu einer Notlüge hatte greifen müssen.
    »Auf dich höre ich nie wieder«, warf Cal ihm beleidigt an den Kopf, während er sich auf die Suche nach seinem Gehstock machte. »Du bist eine verlogene Ratte!«
    »Na klar, lass deine Wut ruhig an mir aus … genau wie alle anderen hier«, erwiderte Will, eher auf Chester gemünzt denn auf Cal.
    Will hatte sich so sehr mit seinem Bruder beschäftigt, dass er die neue Umgebung um sie herum noch gar nicht wahrgenommen hatte. Als er sich von der Leiter abwandte, erzeugten seine Schuhe ein klirrendes Geräusch, so als wäre er auf die Scherben einer zerbrochenen Flasche getreten. Auch die Schritte der anderen riefen nun knirschende und knackende Geräusche hervor.
    Allmählich erkannte Will, was vor ihnen lag. Obwohl er in der Dunkelheit nur wenig sehen konnte, schien es sich um eine Kolonnade aus dicht beieinanderstehenden, massiven Säulen zu handeln, die hoch hinaufragten.
    »Das tu ich jetzt nur, weil die Grenzer so weit hinter uns sein müssten, dass es keine Rolle spielt, und weil ich will, dass ihr wisst, was da auf uns zukommt«, sagte Elliott, schaltete ihre Lampe ein und richtete sie auf das vor ihnen liegende Terrain.
    »Wow!«, stieß Will hervor.
    Es schien, als