Tunnel - 02 - Abgrund
tief in ihrem Inneren und setzte ihre Nerven förmlich unter Hochspannung. Doch Sarah versuchte erst gar nicht, sie zum Schweigen zu bringen. Sie wusste aus bitterer Erfahrung: Wenn etwas zu schön klang, um wahr zu sein, dann war es mit großer Wahrscheinlichkeit auch nicht wahr.
Endlich kam der Fahrstuhlkorb mit einem Ruck auf den Bremsklötzen am Boden des Schachts zum Stehen und rüttelte seine beiden Passagiere ordentlich durch. Vor dem Scherengitter bewegten sich mehrere Schattengestalten. Sarah sah einen schwarzen Ärmel, der die Gittertür beiseiteschob, und im nächsten Moment marschierte Rebecca entschlossen aus dem Aufzug.
Ist das eine Falle? War es das jetzt?, schoss es Sarah durch den Kopf.
Sie rührte sich nicht von der Stelle, blinzelte durch die metallverkleidete Kammer zu den beiden Styx, die in der Dunkelheit warteten und eine schwere Metalltür in etwa zehn Metern Entfernung flankierten. Rebecca hob ihre Lampe und bedeutete Sarah, ihr zu folgen. Auf der massiven, glänzend schwarz lackierten Metalltür, die den einzigen Ausgang bildete, prangte eine große Null. Sarah wusste, dass sie die unterste Ebene erreicht hatten und dass sich auf der anderen Seite der Tür eine Luftschleuse befand, gefolgt von einer weiteren Tür, die schließlich in den Bezirk, den Vorposten der Kolonie führte.
Dies war der entscheidende Moment, der letzte Schritt: Sobald sie die Luftschleuse passierte, war sie wieder zurück … zurück in den Klauen der Styx.
Im nächsten Moment trat einer der beiden Styx ins Licht, wobei sein knöchellanger Ledermantel bei jeder Bewegung knisterte. Er schloss seine dünnen weißen Finger um die Tür und riss sie so fest auf, dass sie gegen die dahinterliegende Wand donnerte. Keiner der Anwesenden verlor auch nur ein Wort, während der dröhnende Hall langsam abebbte. Zwischen den schwarzen, straff nach hinten gekämmten Haaren des Styx schimmerten an den Schläfen silberne Strähnen, und seine ausgesprochen gelbliche Haut wies etliche Falten und Runzeln auf. Tatsächlich besaßen seine hohlen Wangen so tiefe Furchen, dass es aussah, als wollte sich sein Gesicht in der Mitte zusammenfalten.
Rebecca beobachtete Sarah und wartete darauf, dass sie die Luftschleuse betrat.
Sarah zögerte; sämtliche Alarmglocken schrillten und ihr Instinkt warnte sie dringend, diese Tür nicht zu passieren.
Der andere Styx war schwieriger zu erkennen, da er im Schatten hinter Rebecca verharrte. Als der Lichtschein schließlich doch auf ihn fiel, hatte Sarah zunächst den Eindruck, dass er deutlich jünger war als der andere Styx – seine Haut wirkte glatt und sein Haar schimmerte pechschwarz. Doch bei näherer Betrachtung erkannte sie, dass er älter sein musste, als sie gedacht hatte: Sein Gesicht war hager, mit leicht hohlen Wangen, und seine Augen wirkten im schwachen Dämmerlicht wie geheimnisvolle Höhlen.
Rebecca musterte sie unverwandt. »Wir gehen schon mal vor. Du kommst nach, wenn du so weit bist«, sagte sie. »Okay, Sarah?«, fügte sie sanft hinzu.
Der ältere der beiden Styx tauschte mit Rebecca einen Blick und nickte fast unmerklich, ehe sich die drei in die Luftschleuse begaben. Sarah hörte ihre Schritte auf dem längs gerillten Metallboden des zylindrischen Raums und dann ein Zischen, als sich die Gummilippe der zweiten Tür löste. Sekunden später spürte sie einen Schwall warmer Luft, der ihr ins Gesicht blies.
Dann war alles wieder vollkommen still.
Die drei Styx hatten den Bezirk betreten, eine Reihe großer, durch Tunnel verbundener Kavernen, in denen nur die vertrauenswürdigsten Kolonisten lebten. Unter der strengen Aufsicht der Styx war es einer Handvoll dieser sorgfältig ausgewählten Bürger gestattet, mit Übergrundlern Handel zu betreiben und die wichtigsten Versorgungsgüter, die die Kolonie nicht selbst produzieren oder aus den gefürchteten Tiefen fördern konnte, zu erwerben. Der Bezirk war eine Art Grenzstadt, in der nicht die besten Lebensumstände herrschten, da ständig das Risiko eines Höhleneinbruchs oder einer Überflutung mit Übergrundabwasser drohte.
Sarah legte den Kopf in den Nacken und blinzelte in die Dunkelheit des Schachts über ihr. Doch dann wurde ihr bewusst, dass sie sich etwas vormachte, wenn sie glaubte, sie hätte eine Alternative. Es bestand nicht die geringste Chance einer Flucht. In dem Moment, in dem sie das Messer von ihrer Kehle genommen hatte, hatte sie die Macht über ihr Schicksal aufgegeben und es in die Hände der Styx
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