Tunnel - 02 - Abgrund
seiner Hosentasche nach einem Taschentuch und rieb sich damit wieder und wieder die Augen. Nach ein paar Minuten wurden seine Bewegungen weniger panisch. Schleim lief ihm aus der Nase, und seine rot geränderten Augen tränten wie verrückt. Er drehte sich zu Will um und warf ihm einen gequälten Blick zu.
»Ich hab es nicht länger ausgehalten«, krächzte er. »Ich konnte nicht mehr in der Höhle bleiben … ich hab einfach keine Luft mehr bekommen.« Ein weiterer Hustenanfall packte ihn, und er begann erneut zu spucken.
»Ich muss Cal da rausholen«, rief Will und marschierte auf die Öffnung zu. »Ich werd wieder reingehen.«
»Nein, das tust du nicht!«, fauchte Chester, sprang auf die Beine und hielt ihn fest.
»Ich muss einfach«, erwiderte Will und versuchte, sich loszureißen.
»Sei doch nicht dämlich, Will! Was ist, wenn dich diese Scheißdinger auch erwischen und ich dich nicht rausholen kann?!«, brüllte Chester.
Will rang mit seinem Freund, um sich aus dessen Griff zu befreien, aber Chester war eisern entschlossen, ihn nicht loszulassen. Aus schierer Verzweiflung unternahm Will einen halbherzigen Versuch, nach Chester zu schlagen, doch dann brach er in Schluchzen aus. Er wusste, dass Chester recht hatte. Im nächsten Moment ließ Wills ganze Körperspannung schlagartig nach, als hätten ihn plötzlich sämtliche Kräfte verlassen.
»Okay, okay«, sagte er mit zittriger Stimme und hielt resigniert die Hände hoch, woraufhin Chester ihn zögernd losließ. Er hustete und legte dann den Kopf in den Nacken, als wollte er zum Himmel schauen, obwohl er natürlich wusste, dass dieser hinter einer kilometerdicken Schicht Gestein verborgen war. Als die Erkenntnis zu ihm durchdrang, dass Chester recht hatte, stieß er einen abgrundtiefen Seufzer aus, der seinen ganzen Körper erbeben ließ. »Vermutlich liegst du richtig. Cal ist tot«, sagte er leise.
Chester schaute Will unverwandt an und nickte bestätigend. »Es tut mir leid, Will. Es tut mir so unendlich leid.«
»Dabei hat er doch nur versucht, uns zu helfen. Er wollte uns etwas zu essen besorgen … und jetzt sieh dir an, was passiert ist.« Wills Schultern sackten herab und er ließ den Kopf hängen.
Da seine Haut noch immer brannte, kratzte er sich den Nacken und berührte dabei zufällig den Jadeanhänger, den er um den Hals trug. Unbewusst schloss sich seine Hand um das Schmuckstück. Tarn hatte ihm den Anhänger geschenkt, nur wenige Minuten, bevor die Styx ihn niedergemetzelt hatten. »Ich habe Onkel Tarn versprochen, auf Cal aufzupassen. Ich habe ihm mein Wort gegeben«, sagte er niedergeschlagen und wandte sich ab. »Was zum Teufel tun wir hier? Wie ist das alles passiert?« Er hustete und fuhr dann mit kaum hörbarer Stimme fort: »Wahrscheinlich ist Dad auch längst tot, und wir sind total hirnverbrannt und werden hier ebenfalls sterben. Tut mir leid, Chester – aber das Spiel ist aus. Wir sind am Ende.«
Dann nahm er seine Lampe ab, entfernte sich torkelnd von Chester und steuerte unbeholfen auf einen Felsblock zu. Dort ließ er sich auf den Boden sinken und starrte ausdruckslos in das finstere Nichts, das sich endlos vor ihm erstreckte.
18
Mit einem lauten Peitschenknall setzte sich die Kutsche vor dem Haus der Familie Jerome in Bewegung und fuhr durch die Absperrung, nachdem mehrere Polizisten eines der Metallgitter hastig entfernt hatten. Ein paar Meter weiter hatte sich eine kleine Gruppe von Kolonisten versammelt, die sich nun Mühe gaben, so zu tun, als gingen sie ihren Alltagsgeschäften nach. Dabei versagten sie jedoch kläglich, da sie sich – genau wie viele der Polizisten – die Köpfe verrenkten, um einen Blick in die Droschke werfen zu können.
Sarah starrte geistesabwesend aus dem Fenster; sie nahm die Menschenmenge und ihre neugierigen Augen überhaupt nicht wahr. Die Wiedervereinigung mit ihrer Mutter hatte sie zutiefst erschöpft.
»Ist dir eigentlich bewusst, dass du eine Art Berühmtheit bist?«, fragte Rebecca, die erneut neben dem älteren Styx Platz genommen hatte; der jüngere Weißkragen war im Haus der Jeromes zurückgeblieben.
Sarah warf Rebecca einen ausdruckslosen Blick zu und drehte sich dann wieder zum Fenster.
Die Kutsche ratterte durch die Straßen bis in die äußerste Ecke der Südkaverne, zum Areal der Styx, das von einer zehn Meter hohen Eisenpalisade umgeben war. Inmitten des Geländes lag die Furcht einflößende Festung der Styx. Die sieben Geschosse des Gebäudes waren von Hand aus dem
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