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Turner 02 - Dunkle Vergeltung

Turner 02 - Dunkle Vergeltung

Titel: Turner 02 - Dunkle Vergeltung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heyne
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Zeichentrickfiguren auf der Pirsch, so schien es im Mondlicht zumindest, und kehrten in eine Welt zurück, die sich in unserer Abwesenheit verändert hatte.

Kapitel Zwanzig
    »Ich weiß fast nichts über Sie.«
    Ihre Augen wanderten von meinen Augen zu meinem Mund und wieder zurück, mit ruhigem Blick.
    »Warum sollten Sie?«
    Draußen prasselte der Regen herunter, verwandelte Gärten und Fußgängerwege in Schlammwüsten. Eine Drossel hockte im Fenster, die durchweichten Federn fest an sich gezogen.
    »Ich komme jede Woche her seit - wann? inzwischen einem Jahr? - und wir reden miteinander. Die meisten meiner Beziehungen haben nicht annähernd so lange gehalten.«
    Ich ließ das unkommentiert.
    »Ich weiß fast nichts über Sie. Und Sie wissen so viel über mich.«
    »Nur das, was jeder wissen kann, und das, was Sie mir selber erzählt haben.«
    »Jetzt kommt etwas, was Sie noch nicht wissen. Als ich noch ein Kind war, zehn oder so …« Für einen Moment schweifte sie ab, »da hatte ich diesen Freund, Gerry. Und ich hatte dieses T-Shirt, für das ich etwas abgeschickt hatte, von einer Cornflakes-Packung, oder aus einem Comic-Heft. Nichts besonderes, wenn ich jetzt darüber nachdenke, nur dieses dünne, billige T-Shirt, in blau, mit
›Wundermädchen‹ in gelben Buchstaben auf der Brust. Aber ich habe dieses T-Shirt geliebt. Ich habe jeden Tag beim Briefkasten gewartet, bis es endlich kam. Meine Mutter musste es nachts aus meinem Zimmer stibitzen, um es irgendwann waschen zu können … Es war Sommer, und den ganzen Tag hatte es geregnet, so wie heute. Dann, am Nachmittag wurde es weniger, es regnete immer noch, aber mehr in Schauern. Gerry fing an, die Einfahrt hinunter zu rennen und durch diese riesige Matschpfütze am Ende zu schlittern. Das war damals in Georgia, wir hatten kein Straßenpflaster, sondern nur einen Sandweg, eine Zufahrt von der Straße aus. Zuerst wollte ich nicht, aber dann versuchte ich es … und gab mich diesem herrlichen Vergnügen hin. Gerry und ich schlitterten und suhlten uns fast den ganzen restlichen Nachmittag im Schlamm. Das T-Shirt war natürlich ruiniert. Meine Mutter versuchte alles, um es sauber zu kriegen. Als ich es das letzte Mal sah, lag es bei den Putzlappen.«
    Sie schaute vom Fenster zurück.
    »Armes Ding.«
    »Der Vogel?«
    Sie nickte. Aus dem Flur erscholl eine gedämpfte Unterhaltung, nicht zu verstehen, rhythmisch. Es hörte sich ähnlich an wie der Regen draußen.
    »Sie müssen irgendeine Art Bericht einreichen«, sagte sie.
    »Mach ich.«
    »In diesem Fall sollte er wahrscheinlich pünktlich eintreffen.«

    Nach einem Moment sagte ich: »Sie werden Ihnen den Führerschein nicht wiedergeben, Miss Blake.«
    Sie schaute auf die Uhr, die sie aus alter Gewohnheit an ihre Brusttasche geheftet trug. »Ich weiß. Das weiß ich … Und ich hatte Sie gebeten, mich Cheryl zu nennen.« Sie lächelte. »Ich habe kürzlich wieder angefangen zu lesen. Kennen Sie Philip K. Dick, den Science-Fiction-Autor?«
    »Ein wenig.«
    »In seinen späteren Jahren, als er zu Besuch in Kanada war, hatte er eine schlimme Krise, vielleicht so ähnlich wie Poe kurz vor seinem Ende. In einem Tramperhotel kam er wieder zu sich und ging freiwillig in eine Entgiftungsanstalt. Dort erzählte ihm ein anderer Patient eine Geschichte, die prompt zu Dicks liebster Anekdote wurde. Ein Junkie geht los, um seinen alten Freund Leon zu besuchen, und als er ankommt, fragt er die Leute dort, ob er Leon sehen könnte. ›Es tut mir leid, Ihnen das sagen zu müssen‹, antwortet einer von ihnen, ›aber Leon ist gestorben.‹ ›Kein Problem‹, antwortet der Junkie, ›dann komme ich einfach am Donnerstag wieder.«
    Sie stand auf.
    »Dann, bis Donnerstag.«
    Noch lange, nachdem sie fort war - mein nächster Patient hatte abgesagt - saß ich schweigend dort. Irgendwann wurde der Regen weniger und mit einem energischen Schütteln der Federn hob die Drossel von dem Fenstersims ab.
    Als staatlich geprüfte Krankenschwester auf der
Krebsstation hatte Cheryl Blake, die jetzt als Kosmetikverkäuferin arbeitet, Morphin aufgezogen und mindestens drei Patienten durch den Infusions-Katheter injiziert. Vor Gericht antwortete sie auf die Frage, ob die Patienten ihr gesagt hätten, dass sie sterben möchten: »Das brauchten sie nicht. Ich wusste es.« Sie saß sechs Jahre. Letztes Jahr, zwei Tage vor Weihnachten, entließ der Staat sie auf Bewährung. Am Neujahrsabend begegnete ich ihr das erste Mal.
    Die Tür der Erinnerung

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