Turner 02 - Dunkle Vergeltung
sagte eine Wache zu ihr an ihrem ersten Morgen im Lager, als er ihr ein Stück altbackenes Brot brachte. Auf seine Weise, meinte sie, sei der Mann durchaus freundlich gewesen.«
Mit den Gedanken an Freundlichkeit, Grausamkeit und die verheerende Wirkung von Ideen wanderte ich zurück zu meinem neuerdings leeren Haus, vollkommen überzeugt davon, dass ich den Weg inzwischen ohne meinen Waldläufer finden würde - obwohl ich hätte schwören können, einmal Nathan zwischen den Bäumen gesehen zu haben, der mich beobachtete, um sicherzugehen, dass ich es schaffte. Natürlich nur Einbildung. In derselben Nacht dachte ich auch, ich hätte Miss Emily im Garten gesehen, was aber wohl nur der Schatten eines Astes war, zum Leben erweckt durch die unheimliche Allianz von Wind und Mondlicht.
Kapitel Fünfundzwanzig
Eines Morgens rief Herb Danziger an, um mir zu erzählen, dass die Exekution durchgeführt worden war und Lou Winter tot sei. Ich dankte ihm. Herb meinte, ich solle ihn mal besuchen, bevor er mit seiner Krankenschwester durchbrannte. Ich fragte ihn, wann das denn soweit wäre, und er antwortete, möglichst bald. Ich legte auf und wusste nicht, was ich fühlen sollte.
Ich saß da und dachte über einen Patienten nach, den ich damals in Memphis hatte. Als er das erste Mal kam, trug er einen Fünfhundert-Dollar-Anzug, Seidenkrawatte und Ziegenlederschuhe, die so poliert waren, dass es aussah, als liefe er auf zwei Violinen. »Harris. Nur dieser eine Name. Benutzen Sie keinen anderen.« Er schüttelte meine Hand, setzte sich in den Sessel und sagte: »Ammoniak.«
»Entschuldigung?«
»Ammoniak.«
Ich sah mich um.
»Nicht hier. Doch, ja: hier. Eigentlich überall. Genau das ist das Problem.«
Das Licht aus dem Fenster hinter ihm blendete seine Gesichtszüge aus. Ich stand auf und schloss die Jalousien.
»Überall«, sagte er noch einmal, als ich mich wieder setzte. Seine Augen waren wie zwei hockende Krähen.
Achteinhalb Wochen zuvor hatte er im Keller bei der Durchsicht alter Papiere in Aktenkisten gekramt, als ihm völlig unvermittelt der Geruch von Ammoniak in die Nase zog. Es gab nichts, was den Geruch hätte hervorrufen können, da hatte er sich vergewissert. Aber seitdem begleitete ihn dieser Geruch. Er war bei seinem Hausarzt gewesen, war dann an einen Internisten, einen Allergologen und einen Endokrinologen überwiesen worden. Und jetzt war er hier.
Ich stellte die naheliegende Frage, was Therapeuten ja meistens tun: Nach was für Papieren er denn gesucht habe? Er wischte die Frage beiseite wie jemand, der es gewohnt war, leeres Gewäsch zu ignorieren und sich um die wesentlichen Dinge zu kümmern, und redete weiter über den Gestank, wie penetrant er manchmal war, und dass er an anderen Tagen wiederum fast verschwinde.
Über einen Zeitraum von Wochen konnte ich wie im Zeitraffer von Sitzung zu Sitzung den stetigen Verfall sowohl seines äußeren Erscheinungsbildes als auch seines Verhaltens beobachten. Den ersten Termin hatte eine Sekretärin vereinbart. Als ich ein paar Monate später wegen eines Notfalls eine Sitzung absagen wollte, musste ich feststellen, dass Harris’ Telefon abgeschaltet worden war. Die Selbstsicherheit und Pünktlichkeit der ersten Besuche wich Zuspätkommen und einem disjunktiven Dialog, der mehr und mehr einem Monolog seinerseits ähnelte. Wenn er pausierte, hörte er meinen Antworten
gar nicht zu - er schien auf etwas anderes zu lauschen, das aus seinem Inneren kam. Er fing an (wie ein Zimmergenosse im Hinterland die Kompanie-Latrinen umschrieben hatte), nicht so gut zu riechen.
Als ich ihn das letzte Mal sah, linste er mit wildem Blick um die Ecke der offenen Tür, kam herein, setzte sich und verkündete: »Ich bin von den Soldaten des Zufalls angeschossen worden.«
Ich wartete.
»Also, es ist nicht tödlich, glaube ich wenigstens. Die Verletzungen sind allerdings schwer.«
Er lächelte.
»Ich blute, Captain. Weiß nicht, ob ich’s noch bis zum Camp zurückschaffe.« Als er jetzt lächelte, war in seinen Augen wieder das entschlossene Funkeln, wie ich es bei unserer ersten Begegnung beobachtet hatte. »Es war ein Zeugnis«, sagte er.
Ich verstand nicht und schüttelte daher den Kopf.
»Wonach ich im Keller gesucht habe. Es war ein Zeugnis der achten Klasse, das letzte vor dem Abschluss. Drei Jahre auf der Junior High, und ich hatte ausschließlich Bestnoten, aber ein paar Lehrer haben damals ihre eifrigen Köpfe zusammengesteckt und beschlossen, dass das keine so
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