Twig im Dunkelwald
hüpften auf und ab. »Wo kämen wir denn hin, wenn er meine Kunden auffrisst. Das wäre schlecht für’s Geschäft!«
Sie standen wieder auf der Lichtung. Der Hungerlunger hockte vor der Wagendeichsel und vertilgte die Überreste des toten Tilders. Die Plapperdrude schob ihm ein Geschirr über den Kopf, schnallte ihm einen Gurt um den Bauch und zog die Riemen der Deichsel fest.
Twig sah mit dem Stock in der Hand zu. Die Plapperdrude warf die Holzklötze und das Teegeschirr hinten in den Wagen. »Du fährst schon?«, fragte Twig. »Ich dachte …«
»Ich habe nur gewartet, bis Karg gefressen und getrunken hat«, erklärte sie und stieg auf den Bock. Sie nahm die Zügel. »Jetzt muss ich leider … Ich habe so viel zu tun, Kranke heilen …«
»Und was ist mit mir?«, fragte Twig.
»Ich reise immer allein«, sagte die Plapperdrude bestimmt. Sie zog an den Zügeln.
Ratternd fuhr der Wagen los. Twig sah der hin und her schwankenden Lampe nach. Da besann er sich und stellte noch schnell den Stock in die Mitte des Herzens. Mit zitternden Fingern hielt er ihn fest, dann schloss er die Augen und murmelte leise: »Herz, führe mich, wohin du willst.« Er hob den Finger hoch und machte die Augen auf. Der Stock blieb stehen.
Er versuchte es noch einmal. »Herz, führe mich …« Finger weg. Wieder blieb der Stock stehen.
»He, du!«, brüllte Twig der Plapperdrude hinterher. »Der Stock bleibt einfach stehen.« Die Heilerin spähte um die Ecke des Wagens. Ihre Tentakelaugen glänzten im Schein der Laterne. »Warum fällt er nicht um?«, rief er.
»Keine Ahnung, Jungchen«, rief sie zurück und verschwand wieder hinter der Plane.
»Schöner Zauber!«, murmelte Twig wütend und schleuderte den Stock weit weg in die Büsche.
Auch die flackernde Laterne verschwand. Twig drehte sich um und marschierte in entgegengesetzter Richtung in die Nacht. Er war ein Pechvogel. Niemand bleibt bei mir, dachte er, niemand kümmert sich um mich und ich bin auch noch selbst an allem schuld. Unter keinen Umständen hätte ich den Weg verlassen dürfen.
KAPITEL 12
Die Himmelspiraten
D ie Wolken hoch über Twigs Kopf wurden immer dünner und kräuselten und schlängelten sich wie Maden um den Mond. Fasziniert und bangen Herzens zugleich starrte Twig nach oben. Während sich am Himmel so viel bewegte, war unten am Waldboden alles still. Nicht ein Blatt regte sich. Die Luft war schwül und knisterte wie geladen.
Plötzlich zuckte in der Ferne ein blauweißer Blitz über den Himmel. Twig zählte. Bei elf hörte er das dumpfe Grollen des Donners. Wieder leuchtete der Himmel auf, heller noch als beim ersten Mal, und wieder donnerte es. Diesmal kam Twig nur bis acht. Das Gewitter rückte näher.
Er rannte los. Immer wieder rutschte er aus, stolperte oder fiel sogar hin, aber er rannte immer weiter durch den tückischen Wald, der im einen Moment taghell aufleuchtete und dann wieder in pechschwarzer Finsternis versank. Ein trockener, knisternder Wind kam auf und fuhr Twig durch die Haare und das Fell seiner Hammelhornweste.
Geblendet vom rötlichen Nachleuchten der Blitze, wirkte die darauf folgende Dunkelheit nur umso dunkler. Blind stolperte Twig weiter. Der Wind blies ihm in den Rücken. Dann krachte es direkt über ihm. Eine gezackte Gabel aus gleißendem Licht spaltete den Himmel. Fast im selben Augenblick ertönte ein mächtiger Donnerschlag! Die Luft vibrierte, die Erde bebte. Twig fiel hin und versuchte den Kopf mit den Armen zu schützen. »Er f … fällt runter«, stotterte er. »Der Himmel fällt runter.«
Wieder explodierte ein gleißend heller Blitz, gefolgt von einem ohrenbetäubenden Donnerschlag. Dasselbe geschah noch ein drittes und viertes Mal. Doch nahm inzwischen der Abstand zwischen Blitz und Donner wieder zu. Zitternd stand Twig auf. Der Wald, abwechselnd hell erleuchtet wie eine Versammlung tanzender Skelette und dann wieder tief schwarz, war immer noch um ihn und der Himmel über ihm.
Er kletterte auf einen alten hohen Luftholzbaum um zu beobachten, wie das Gewitter wegzog. Immer höher stieg er. Heftige Böen zerrten an seinen Händen und Füßen. Oben angekommen, ruhte er sich keuchend in einer schwankenden Astgabel aus. Es roch nach Regen, ohne dass es geregnet hätte. Blitze stachen herunter, der Himmel funkelte, Donner grollte. Plötzlich ließ der Wind nach.
Twig rieb sich die Augen, kämmte mit den Fingern die letzten Perlen und Schleifen aus den Haaren und sah zu, wie sie in das Dunkel unter ihm
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