Twin Souls - Die Verbotene: Band 1
hörten wir nichts als unsinniges Geplapper: »Ich … immmer, ich … und, ähm, äh … bitte … ich, ich brauche …«
Seine fieberhaften Wörter wurden von den Korridorwänden zurückgeworfen.
Jaime begann zu lachen oder zu weinen, oder beides. Er wandte das Gesicht von der Scheibe und der Sprechanlage ab, daher war es schwer zu erkennen. Wir sahen nur seine bebenden Schultern. Zucken. Er war ununterbrochen am Zucken.
Dann hielt er seinen Mund wieder an die Gegensprechanlage.
Er flüsterte: »Weg … weg … sie – sie haben ihn rausgeschnitten. Raus. Er …« Jaime stöhnte. »Er ist weg.«
Addie schlug die Fensterklappe zu.
Eine furchtbare, lähmende Übelkeit raubte uns den Atem. Wir stießen sie beiseite, taumelten würgend den Gang entlang. Jaimes leise, stockende Stimme dröhnte in unseren Ohren, pochte in unserem Blut, vibrierte in unseren Knochen.
Wir rannten, bis wir in jemanden hineinkrachten, der den Flur in die entgegengesetzte Richtung entlanghastete.
Dr. Lyanne stieß einen erschrockenen Schrei aus, aber ihre Arme hielten uns fest, schlangen sich um uns. Ich kreischte.
Alles war kalter Schweiß und brennende Angst und das Unvermögen zu Atmen.
Er ist weg.
Er ist weg. Er ist weg.
Seine Zwillingsseele, geboren mit Geisterfingern, welche die seinen umklammert hielten. Sie hatten ihn herausgeschnitten. Die Operation war ein Erfolg gewesen – wenn man das einen Erfolg nennen konnte. Erfolg!
Dr. Lyanne hielt uns fest, brüllte uns an, uns zu beruhigen, beruhigen, beruhigen.
Jemand weinte, und erst als der Schleier sich etwas lichtete, als der Schmerz etwas nachließ, als wir endlich wieder atmen, atmen, atmen konnten, wurde uns bewusst, dass nicht wir es waren.
Wir hatten vergessen, den Lautsprecher von Jaimes Zimmer auszuschalten.
Dr. Lyannes Hand lag wie eine Fessel um unser Handgelenk, als sie uns zurück zu Jaime führte. Wir wollten nicht dorthin gehen, Angst und Scham lähmten uns. Scham, weil wir uns gefürchtet hatten, weil wir weggerannt waren. Weil wir diesen Jungen, der einsamer als je zuvor in seinem Leben war, im Stich gelassen hatten.
»Jaime«, sagte Dr. Lyanne. »Jaime, sch. Alles ist gut.« In ihrer Hast, den Code in die Tastatur zu hämmern, der Jaimes Tür öffnete, ließ sie uns los. Wir blieben zurück, drückten uns an die Wand, versuchten, die hämmernden Kopfschmerzen und den Schwindel beiseitezuschieben. Renn, dachte ich, aber die Nachricht erreichte unsere Gliedmaßen nicht. »Sch, Jaime. Es ist alles in Ordnung, Süßer. Alles ist gut.«
Langsam stießen wir uns von der Wand ab. Wir hielten uns haltsuchend an der Tür fest, als wir uns umwandten und in das Zimmer blickten.
Das kleine blaue Segelboot-Nachtlicht verströmte einen sanften Schimmer. Zusammen mit der gelben Notfallbeleuchtung schaffte er so viel Licht, dass wir Dr. Lyanne auf dem Bett erkennen konnten, die ihre Arme um Jaime gelegt hatte und ihn sanft wiegte, wiegte, wiegte.
»Sch, mein Süßer. Sch…«
Dr. Lyanne leuchtete uns mit einer Stiftlampe in die Augen. Addie kniff sie zusammen und wandte sich ab, die Finger in die Untersuchungsliege gekrallt. Jamie hatte sich beruhigt und Dr. Lyanne hatte ihn wieder in seinem Zimmer eingesperrt, ehe sie Addie und mich zurück in den Operationssaal brachte, in dem wir aufgewacht waren.
»Ist dir schwindelig?«, frage Dr. Lyanne. Ihrer Stimme fehlte ein Tick der üblichen autoritären Schärfe, als wäre sie ein Messer, das stumpf geworden war. »Übel?«
Addie zuckte mit den Achseln, obwohl unser Kopf zu zerspringen drohte und unser Magen in Aufruhr war. »Wo sind wir?«
»Im Keller«, sagte Dr. Lyanne.
»Wo ist Li…, Hally?«
Dr. Lyanne wandte sich ab, um an einem Tablett mit medizinischer Ausrüstung herumzufingern. Sie ließ etwas fallen und musste sich bücken, um es aufzuheben. Ihre Bewegungen waren fahrig, ihr üblicher Deckmantel aus Gelassenheit war an den Rändern ausgefranst. »Wahrscheinlich im Bett. Es ist schon spät.«
Log sie gerade?
Addie schluckte, dann räusperte sie sich leise. »Geht es ihr gut?«
Dr. Lyanne drehte sich nicht um. »Sie ist nicht vom Dach gefallen, also würde ich sagen, es geht ihr besser als dir. Du und sie, ihr habt beide Glück, dass ihr euch keine Glassplitter in die Haut getrieben habt.«
»Aber geht es ihr gut?«, fragte Addie. »Ist sie in ihrem Zimmer? Sie haben sie nicht aufgeschnitten? Sie haben sie noch nicht operiert?«
Die Frau musterte uns scharf. Vielleicht hätten wir nicht verraten
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