Twin Souls - Die Verbotene: Band 1
schlafen, wachen, schlafen, wachen, aber sie sah aus, als hätte sie überhaupt kein Auge zugetan. Sie sagte uns, wir schienen gesund und würden zum Frühstück zu den anderen Kindern zurückkehren.
‹Ryan›, sagte ich, als wir ihn endlich in der Cafeteria entdeckten, und dem Ausdruck nach zu urteilen, der über sein Gesicht huschte, war er ebenso erleichtert, uns zu sehen. Unsere Augen suchten den Tisch nach Lissa ab, aber sie war nicht da. Cal war da – er war Cal, egal was die Ärzte sagten –, sein Blick war verhangender als je zuvor. Auch Kitty saß am Tisch, sie starrte ihr Essen an und bewegte sich wie eine Marionette. Aber keine Lissa. Keine Hally.
Die Schwester mischte sich ein, als Addie sich neben Ryan setzen wollte. »Ich bin gebeten worden, euch zwei zu trennen«, sagte sie ohne jede Gefühlsregung. »Such dir bitte einen anderen Platz aus, Liebes.« Ryan presste die Lippen zu einem dünnen Strich zusammen, aber er protestierte nicht. Er sah einfach zu, wie Addie langsam ans andere Ende des Tisches ging.
Doch selbst danach wachte die Schwester während des gesamten Frühstücks noch mit Argusaugen über uns. Addie hielt unseren Blick auf das gelbe Essenstablett gerichtet und unseren Mund geschlossen. Und als die Krankenschwester uns rief, damit wir uns in einer Reihe aufstellten, versuchte Addie nicht einmal, neben Ryan zu landen. Im Studierzimmer schloss sie sich einem der jüngeren Mädchen an, das an einem Tisch gegenüber von Bridget Platz nahm. Keine der beiden sah uns in die Augen. Wir waren jetzt wie Cal. Eine Gefahr.
Dieser Morgen war unser fünfter in der Nornand Klinik. Ich musste die Tage rückwärts durchgehen, damit ich überhaupt sagen konnte, welchen Wochentag wir hatten – Mittwoch. Die Tage gingen ineinander über. Welche Rolle spielte es, ob es Montag oder Dienstag oder Sonntag war? Es gab kein Zur-Schule-Laufen mehr, kein Lachen auf den Fluren in den Fünfminutenpausen, kein Über-die-Straße-zum-Café-Rennen in der Mittagspause. Nur ein stilles, nüchternes Studierzimmer und uns vierzehn in Nornandblau. Uns dreizehn. Denn Lissa und Hally waren fort.
Ich ertappte mich dabei, wie ich mir über alle möglichen blöden Dinge Gedanken machte. Was für Sachen hatte Kitty getragen, ehe sie hierhergekommen war? Hatte sie Kleider gemocht oder wegen der vielen Brüder darauf bestanden, Hosen zu tragen? Trug Bridget die ganze Zeit schwarze Haarschleifen, weil sie ihr gefielen oder weil sie nicht daran gedacht hatte, andere einzupacken, als sie ihr Zuhause verließ?
Wir sahen diese Kinder an, die sich über ihre sinnlosen Arbeitsblätter und Aufsätze beugten. Von den meisten kannte ich noch nicht einmal den Namen, an etliche hatte ich bisher kein Wort gerichtet, und in meinem Innern ballte sich die Schuld zu einem schmerzhaften Knäuel zusammen. Die meisten von ihnen waren nicht viel älter als Kitty. Ich versuchte, sie mir der Reihe nach genau anzusehen, mir Einzelheiten ihrer Gesichter, ihrer Haare, der Art, wie sie dasaßen oder auf ihren Stühlen hingen, einzuprägen. Ein Mädchen hatte einen Wust hellbrauner Locken. Der Junge neben ihr war mit Sommersprossen übersät und hatte seine Nägel bis auf das Bett abgekaut. Viele der Kinder trugen Sneakers, aber ein paar auch Schultreter so wie wir. Ein Mädchen hatte weiße Sandalen an, ein anderes schicke schwarze Schuhe, als wäre es von einer Party entführt und sofort hierhergebracht worden.
Mit jedem winzigen Detail jedoch, das mir an den anderen Hybriden um uns herum auffiel, gewann ein übelerregender Gedanke an Macht und nagte an mir. Wie viele von ihnen würden wie Jaime enden? Wie viele von ihnen würden unter dem Messer landen, zwei Seelen, die sich Lebewohl zuflüsterten, während das Narkosemittel ihren Gliedmaßen die Kräfte raubte?
‹Lissa›, sagte ich wieder und wieder. Ein angstvolles Stöhnen. Ich konnte nicht aufhören damit. ‹Lissa. Hally.›
Wir brachen die Spitze unseres Bleistifts ab, und Mr Conivent kam, um uns einen neuen zu geben. Er trug das gleiche gestärkte weiße Hemd, das er an dem Tag angehabt hatte, als er gekommen war, um uns unserer Familie wegzunehmen. Das Hemd war wie Eis und Schnee – die Manschetten umgeschlagen, der Kragen steif an seiner Haut. Er stellte sich neben uns, beugte sich herunter, damit er flüstern konnte, damit er sehr, sehr leise in unser Ohr wispern konnte: »Heute soll ein wunderschöner Tag werden.« Der Bleistift bohrte sich mit der Spitze zuerst in unsere Hand.
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