Tyggboren (Salkurning Teil 2) (German Edition)
und den rennenden Rotten mal abgesehen, sah alles
aus wie immer. Die Sonne schien noch. Die Erde schwankte nicht, es kam auch
keine Flutwelle – oder? Hastig sah sie sich um, fand sich dann lächerlich.
Lieber zur Küste sehen, die endlich näher kam. Keiner sagte mehr etwas. Man
hörte nur James heulen.
Der Blick zur Küste war aber auch kein Trost. Der
Hafen schien noch voller zu sein als am Morgen, und irgendwie sah es so aus,
als gafften die ihnen alle entgegen. Hatten die vielleicht die Sache auf dem
Bult mitgekriegt? Wie Jakobe abgestürzt war? Oder beobachteten sie die Rotten?
Sie hatte vielleicht nicht viel verstanden von dem,
was dieser de Braose gesagt hatte, aber genug um zu wissen, dass der Ruderer
mehr gehört hatte, als gut für sie war. Was, wenn der gleich an Land ging und
sagte: Hier, da habt ihr den Tygg- (wie immer das hieß, was James sein sollte)
– der ist an allem schuld, macht ihn fertig! Und so wie James sich
benahm, wirkte er auch nicht gerade unschuldig. Was er getan haben sollte, war
ihr nicht klar. James war kein Mörder oder jemand, der irgendwem mit Absicht
was tat – aber vielleicht hätte er die Maske nicht nehmen dürfen, vielleicht
war das nicht nur Diebstahl, sondern irgendein Verbrechen gegen ihre Götter?
Jetzt konnte man schon den Bootssteg sehen. Und die
Meute, die vielleicht nur darauf wartete, sie alle zu lynchen. Sie fasste
Dorians Hand mit ihren beiden Händen, und er sah sie an, mit zusammengezogenen
Augenbrauen und steilen Sorgenfalten über der Nasenwurzel. Er war noch blasser
als vorhin. Die Sommersprossen sahen aus wie aufgesprüht.
„Kommen wir zurück, Dorian? Nach Hause zurück?“ Sie
musste das einfach fragen. Sie fixierte ihn mit ihrem Blick, dass er nicht
ausweichen konnte. Und sie sah die Antwort in seinen graubraunen Augen, bevor
er sie aussprach.
„Nein, Pix. Das tut mir so leid für euch, aber –“
Während sie immer näher auf die Meute zuglitten,
musste sie seltsamerweise an ihre Mutter denken, mit der sie sich nie gut
verstanden und die letzten drei Jahre im Dauerclinch gelegen hatte, an die
perfekte Annette, die jetzt irgendwo drüben in ihrem Büro saß und immer mehr
von ihrem Wodka trank.
Wieder stupste etwas an die Bootswand, aber diesmal
waren es nur Tangmatten, die im Wasser trieben. In dem hellgrünen Geflecht
waren große schwarze Stellen, die wie verkohlt aussahen. Aber tote Asche war
das jedenfalls nicht. Es knisterte, als würde dadrin was ohne Flammen brennen,
und noch mehr von diesem dunklen Rauch stieg von dort auf und wirbelte in
kleinen Wolken in die Luft.
Sie konnte nicht mehr. Nicht mal heulen wie James. Sie
ließ sich gegen Dorian sinken und glotzte blöd die anderen gegenüber an:
Bagrat, der aussah, als grübelte er über eine physikalische Formel nach,
Sandrou, der sich an die Bootswand kuschelte, am Daumen lutschte und mit der
anderen Hand Carminos Hosenbein festhielt – kurz vor dem Einschlafen.
Klingen-Firn, der den Arm wieder um James gelegt hatte und seine Schulter
streichelte – eindeutig nicht mehr die Kumpelnummer, aber wen kratzte das jetzt
noch?
Auf ihrer Hand ließen sich winzige schwarze Krümel
nieder. Sie wischte sie weg. Aber es kamen direkt neue nach.
21. Aller Tage Abend
1.
Wegen der Bewegung des Bootes war nicht zu erkennen,
ob de Braose noch atmete, also fasste Dorian zögernd nach dem Handgelenk im
blutverkrusteten Ärmel. Wenn der jetzt tot ist, dachte er, dann habe ich ein
riesiges Problem am Hals. Er glaubte, ein schwaches Pochen zu spüren. Bewegt
hatte der Ghistriarde sich nicht. Wenigstens waren seine Augen jetzt
geschlossen.
Dann wurde seine eigene Hand gepackt.
„Kommen wir zurück, Dorian? Nach Hause zurück?“
Obwohl von Pix ein fürchterlicher Gestank nach
Erbrochenem ausging, fühlte er mit ihr viel mehr Mitleid als mit dem halbtoten
Kerl im Heck. Und außerdem fand er, dass mit dieser Frage zum ersten Mal seit
einer halben Stunde etwas Vernünftiges ausgesprochen worden war. Etwas, worauf
er eine klare Antwort geben konnte, auch wenn die nicht schön war. Er gab sie
und wartete ergeben auf den nächsten Ausbruch von Fragen, von Tränen, von
Protest, aber da kam nichts. Vielleicht hätte man auch etwas zu James sagen
müssen, irgendwas, das diesem Schluchzen ein Ende machte, aber ihm fiel nichts
ein. Sein Kopf dröhnte, sein Hals war zugeschwollen, und etwas zitterte in
seiner Brust. Ihm war immer noch nicht klar, was hier eigentlich passiert war.
Wie war er plötzlich in
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