Tyggboren (Salkurning Teil 2) (German Edition)
gekleidete
Menschen in seltsam steifer Haltung miteinander zu sprechen schienen, und neben
ihnen schwebte, nur ein wenig über dem Boden, eine Gestalt, die ganz
körperlich, ebenso realistisch dargestellt war wie sie, aber darüber hinaus große,
dunkel gefiederte Flügel trug – sichtbar für James und all die anderen Kinder,
die sich täglich unter diesem Gemälde versammelten, sichtbar für jeden, nur
nicht für die Leute im Bild, die ihren Alltagsgeschäften nachgingen, als wäre
nicht der düstere Engel direkt an ihrer Seite.
Und so war er in diesem Moment hier, er, der Forlorner.
James fühlte den Luftzug unter seinen Schwingen, konnte geradezu ihr Rauschen
hören, er ahnte den Hunger in den toten Augen, die in den letzten Minuten durch
seine Augen zu sehen versucht hatten. Seit Orla ihren Namen ausgesprochen
hatte! Persepha!
Raus hier!
Hinaus durch den rückwärtigen Eingang, vorbei an den
Kindern, die immer noch stritten, dem Schaukelbrett ausweichen, das jemand wütend
angetreten hatte, den Pfad am Flussufer entlang Richtung Strand. Ohne Umwege in
den Blütentau von Krai und sich das erstbeste Mädchen greifen, diesen
ganzen Irrsinn aus sich herausvögeln!
Wie kam Orla an diesen Namen? Wieso behauptete sie,
Persepha habe mit ihr gesprochen? Das machte den Wahn unumstößlich wirklich.
Diese Geschichte klebte an ihnen beiden … dieser verdammte Aubrey, der war
immer noch hinter ihm her – und weiß Gott vielleicht nicht nur hinter ihm,
vielleicht hatte er sich vorher schon an Orla herangemacht?! Vielleicht war er,
James, erst die zweite Wahl gewesen, einer, der sich zufällig in der Nähe
seines ersten Opfers aufhielt und der ihm besser geeignet schien für –
Ja, wofür? Was willst du von uns?!
Inzwischen hatte er den Strand erreicht, und die
Hysterie flaute ein wenig ab. Zum Glück war er vom Blütentau noch weit
entfernt. Er setzte sich, grub die Finger in den feinen Sand; der Gedanke an
Halfasts Zigarillos streifte ihn, von denen hätte er jetzt einen brauchen
können. Gern hätte er gelacht über den Mann mit den Flügeln, aber die
Vorstellung seiner Anwesenheit war so bezwingend, dass er sie nicht weglachen
konnte. Da, da ganz in der Nähe stand er, abwartend, irgendwo zwischen hier und
dem Wasser, das dort in flachen Wellen über den Sand leckte. Und starrte ihn an
–
„Wenn du dich wirklich immer noch hier rumtreibst,
dann hilf mir lieber weiter!“, sagte James. „Sag mir, wo ich den Askertormen
finde! Und keine Bilder mehr, Mann, kein Funkellicht und keine Masken! Klartext!“
Zum Glück war niemand in der Nähe, der ihn hier mit
dem Wind sprechen hörte. Zwar waren Leute am Strand, aber die richteten sich
viel weiter hinten ein. Machten Feuer und so. Und von Aubrey kam natürlich auch
keine Reaktion. Vielleicht kann ich ihn auch bloß nicht hören, dachte er. Muss
mich erst auf seine Aura einstellen. Oder auf seine Schwingung.
Das brachte ihn auf den Treppenstufen-Vers. Der
möglicherweise Aubreys Jäger-Shelter gewesen war. Ob er sich mit dem auf seine
Wellenlänge bringen konnte? Ein unheimlicher Gedanke brachte seinen Sarkasmus
ins Wanken. Sowohl am Tag der Mistelköpfe als auch neulich, als er zur Rogwarken-Festung
hinaufgestiegen war, war dieser Vers dabei gewesen!
Okay, jetzt reicht es. Ich geh doch noch in den Blütentau !
Nein, machst du nicht. Du versuchst das jetzt! Es ist
idiotisch, vielleicht sogar krank, aber sag den Spruch! Ich brauch die Antwort!
So albern das auch war, es machte ihm eine
Heidenangst. Gegen den Vers konnte er sich sowieso nicht wehren, die
Treppenstufen schienen immer zu warten, dass er ihnen zuhörte. Kaum waren sie
ihm in den Sinn gekommen, spulte sich der Blödsinn wie von selbst ab.
Treppenstufen schlafen nie –
Ich will das nicht! Wer weiß, was ich mir damit an den
Hals hole! Mit so was spielt man besser nicht. Würde einem jeder Psychiater
bestätigen. Kein Ouija-Brett für Besessene!
… mit blassen Augen wachen sie –
Aber ich bin der Jäger. Ich suche, bis ich das Ding
finde! Jäger, nicht Gejagter!
… sehn dem Fuß zu, der –
Und ich will sie noch einmal sehen, Persepha auf den
grauen Decken … ob sie wirklich wie Orla –
… schlafen nie –
Er hatte sie sofort vor Augen, nicht mehr nackt wie
vorhin, aber auch auf diesem Feldbett. Eine zusammengekrümmte Gestalt auf
grauen Decken. Ihr Kleid aus mehreren dünnen Lagen vanillefarbenen Stoffs, wie
schlaffe Blütenblätter, aber zerrissen und schmutzig. Und in ihrem
Weitere Kostenlose Bücher