Typisch Mädchen
Pinkelverhalten des Mädchens abgewertet, das Mädchen angeblich aufgrund seiner Anatomie geringgeschätzt; andererseits ist die weibliche Kleidung so gemacht, daß anderes Verhalten an den Realitäten unserer Gesellschaft scheitert, wie mir meine Überlegungen beweisen.
2. In entsprechenden theoretischen Büchern ist immer wieder zu lesen, daß Väter die Konservativeren in bezug auf geschlechtsspezifische Erziehung seien. 18 Das mag wohl für irgendwelche Väter zutreffen, dachte ich, nicht aber für Klaus. Aber auch Klaus reagierte der Statistik entsprechend. Ist er nicht - übertragen auf seinen Kulturkreis - einem Muslim ähnlich, der es nicht erträgt, daß seine Frau ohne Schleier auf die Straße geht?
3. Ich stelle Freiheitsgefühle und die Lust am eigenen Körper hinter die Erwägung zurück, wie dieses Verhalten auf Männer wirkt, ob aus diesem Grund für Anneli oder andere weibliche Wesen Unheil von Männern droht.
Selbst wenn es dabei nur ein winziger Bruchteil aller Männer ist, der in diese Kalkulation einzubeziehen ist, so sind es offenbar doch immer noch genug, um das Verhalten der Frauen zu steuern. Gleichzeitig befinde ich mich im Einklang mit der männlichen Argumentation bei Vergewaltigungen: »Hätte sie
sich nicht so verhalten oder angezogen, dann hätte er ja auch nicht daraus geschlossen ...«
Auch hier wird das Mädchen an die Männerwelt angepaßt, ohne daß es merkt, warum. Wir würden das auch niemals unter den Begriff Erziehung fallen lassen - oder doch? Ich versage Anneli Lust auf ihren schönen nackten Körper um irgendwelcher mieser Typen willen und bin voller Wut.
21. August 1983 (2Jahre)
Wir sind in Berlin. Sie trägt ein ganz leichtes Sommerkleid. Als wir das Haus verlassen haben, stellt Klaus fest, daß sie keine Unterhose anhat - einer von uns hatte vergessen, sie ihr anzuziehen. Ich denke, dann eben nicht, ich geh im Sommer auch manchmal ohne. Klaus dagegen ist entsetzt und würde am liebsten mit dem Auto wieder ein Stück zurückfahren, um ihr noch die Hose anzuziehen. Befragt von mir, warum, gibt er zur Antwort, daß sie sich doch ohne Unterhose nicht überall hinsetzen könne! Ich finde es unwichtig und bin der Ansicht, daß sie sich an einem so heißen, trockenen Tag »überall« hinsetzen kann. Warum denn nicht? »Weil dann Schmutz hinkommen könnte.« Wo denn, bitte schön? Zwei Stunden später sind wir bei Oma Rosner im Garten. Sie hat extra einen Buddelkasten für Anneli gemacht. Ich setze sie hinein - nackt. Als Oma Rosner das sieht, rennt sie gleich nach einer Unterhose für Anneli und will sie ihr anziehen, obwohl Anneli sich wehrt. Als Grund gibt sie an, Anneli könne doch als Mädchen nicht nackt in dem Sand sitzen, »sonst kriegt se wat zwischn de Beene«. Gebadet wird das Kind doch sowieso, auch »zwischen de Beene«, was ist es also, das das Mädchen so verletzbar »zwischen de Beene« macht? Jetzt fällt mir erst auf, daß Oma in München schon den ganzen Sommer über hinter Anneli her ist, um ihr eine Unterhose anzuziehen - wenigstens das! Die Begründung war, daß sie sich nicht »ohne« überall hinsetzen könne. Schon wieder die schreckliche Verletzbarkeit am Geschlechtsteil eines Mädchens, so daß es immer in Unterhosen gehen muß. Ich fühle mich mit meiner Liberalität sehr über den Dingen stehend.
Beim Heimfahren schauen wir noch schnell beim Volksfest vorbei. Wir stehen am Straßenrand und warten auf die grüne Ampel. Auf der gegenüberliegenden Seite stehen viele Leute. Da hebt Anneli auf einmal ihren Rock ganz hoch bis zum Hals und zeigt so der Welt ihren Bauch! Ich gerate in Panik-es ist mir, als stünde ich selbst nackt an dieser Straßenkreuzung - und sage ihr sofort in entsetztem Ton, daß man das nicht tut und sie sofort den Rock herunterziehen soll. Dabei warte ich noch nicht einmal ihre Reaktion ab, sondern zerre ihr selbst heftig den Rock herunter. Sie läuft fröhlich weiter, ohne die Situation in irgendeiner Weise zu »kommentieren«. Ich bin mir aber sicher, daß mein Verhalten Eindruck hinterlassen hat.
Was bedeutet das alles? Warum war ich persönlich so verletzt von ihrer Nacktheit? Ich kann mir nicht erklären, woher dieses große Tabu vor dem nackten weiblichen Genital rührt. Ich habe heute nur festgestellt, daß die Umwelt es weitergibt und ich, obwohl ich mich in der Auseinandersetzung mit den anderen Personen darüber erhaben fühlte, in der Spontansituation genauso handelte.
Auf einen Nenner gebracht: »Unten rüm«
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