Typisch Mädchen
Arzt als Patientin auf, vor dem Richter als Zeugin oder als Schülerin in der Schulbank vor dem Lehrer. Das Buch ist für mein Empfinden eine einzige Verleugnung der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Muß ich mir da Skrupel machen, wenn ich dem Kind öfter mal die Frauen als die » auch« Vertretenen darstelle, obwohl es nicht ganz der Wirklichkeit entspricht, wie zum Beispiel bei der Orchesterbesetzung oder bei den Gottheiten? In diesem Buch wird schlichtweg die Existenz der zahlreichen Ärztinnen, Richterinnen, Rechtsanwältinnen, Lehrerinnen, Ingenieurinnen und Architektinnen verleugnet. Ich bin sehr empört über diese gesellschaftliche Lüge und schwöre mir, Rache zu nehmen in Form von weiblichen Gegendarstellungen, indem ich Berufe nur noch in der weiblichen Form erwähne. Im zweiten Buch, das wiederum nur Männer in diesmal nichtakademischen Berufen zeigt, sind sie Baggerführer, Monteur, Bäcker, Koch und Maler.
Mir platzt der Kragen, und ich spreche die Bibliothekarin daraufhin an. Sie geht auf das von mir angebotene Gespräch ein, versteht auch sofort, was ich meine, und es stellt sich heraus, daß auch sie Janosch für sexistisch hält. Mir verschlägt es den Atem. Warum empfiehlt sie ihn mir denn, solange sie meine Meinung noch nicht kennt? Liegt es daran, daß ich nicht flippig, alternativ angezogen war (sie übrigens auch nicht) und sie mich deshalb für konservativ hielt? Ist das nur eine Sache für Insiderinnen? Soll nur die Feministinnenszene nichtsexistische Bücher haben? Ich weiß nicht so recht, was dieser plötzliche Sinneswandel soll. Ich frage sie, ob sie bemerke, daß Töchter-Mütter andere Kinderbücher ausleihen als Söhne-Müfter. Sie bejaht. Für Mädchen werden Pferde- und andere Tierbücher, mystische und märchenhafte Geschichten ausgeliehen, für Buben Abenteuer, Weite-Welt-Geschichten und die Berufebücher. Ab etwa sieben Jahren, so wird mir versichert, ergäbe sich aber dann der Unterschied beim Ausleihen von selbst. Ist das der vielbeschworene Instinkt, der Buben anders sein läßt als Mädchen?
Übrigens versichert mir beim Mittagessen die Bibliothekarin, die einen vierjährigen Sohn hat, daß Buben tatsächlich anders seien als die Mädchen - trotz gleicher Behandlung. Sie habe ihren Buben nie zu einem Mann erziehen wollen, und doch sei er ein richtiger Bub geworden. Es sei wohl der angeborene Unterschied, wie sie eben jetzt zugeben müsse - obwohl sie daran früher nie geglaubt habe.
12. Februar 1984 (2Jahre, 6 Monate)
Annelis Schneemann, den wir tags zuvor gebaut hatten, ist zerstört. Sie heult schrecklich. Ich sage ihr, daß das irgendwelche bösen, dummen Buben waren. Gewalt, Aggression, Zerstörung werden von mir ohne weitere Überlegung ganz spontan männlichen Wesen zugeordnet. Wohl, weil ich es in meinem Leben so empfunden habe und immer noch so empfinde, weil es für mich gesellschaftliche Realität ist. (Boxsport, Vergewaltigung, Militär, Krieg, Kriminelle, mir fallen dabei ganz assoziativ eine Menge Gewaltsituationen ein, die ausschließlich mit Männern zu tun haben.) Vielleicht ergibt sich nun aber für Anneli daraus der Rückschluß, daß solche Taten, die von Buben verübt werden, diesen auch erlaubt sind, für Mädchen dagegen nicht in Frage kommen. Ihren Versuch, sich selbst mit dem Vorsatz zu trösten: »Die hauen wir aber«, entkräftet sie gleich selbst mit der Feststellung: »Die hauen aber zurück« und heult dann noch verzweifelter angesichts ihrer Ohnmacht gegenüber diesen bösen Buben. Dies bestätigt mich in meinem Eindruck, daß ihr gegen körperliche Gewalt, die sie bisher immer nur von Buben erfahren hat, keine Verhaltensweise einfällt, die diese Gewalt verhindern könnte; daß Hauen wieder nur Hauen hervorruft und damit den Konflikt nicht beseitigt, ist ihr aus Erfahrung klar. Sie schlägt auch nicht zurück - sie verweigert sich diesem männlichen Prinzip »Aug um Aug, Zahn um j Zahn«, und sie führt in dieser Situation das Prinzip ad absurdum. Warum aber existiert dann das Gefühl der Ohnmacht bei Anneli? Weil wir dem keine anderen Verhaltensmuster entgegensetzen können, weil wir Mütter nichts anderes als patriarchale Konfliktlösungsmöglichkeiten anbieten können, weil Gewalt nicht »atmosphärisch« gebrandmarkt und verworfen wird - es sei denn für Mädchen und Frauen. Nachmittags in der Küche wedelt Schorschi vor ihrem Gesicht mit einem Handtuch herum, nimmt eine Drohhaltung ein und schreit auf Anneli ein. Für ihn ist es nur
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