Über Boxen
unbenannt und dem Bewusstsein nicht zugänglich ist? Ein Kern aus Unpersönlichkeit innerhalb der sorgsam gehegten und eifersüchtig hochgehaltenen Persönlichkeit, mit der wir gleichgesetzt werden – von uns selbst und von anderen. In seinem spekulativen Essay «Totem und Tabu» denkt Freud über die zwiespältige Natur des Tabus nach, seine Verbindung mit dem Heiligen und Geweihten einerseits und dem Gefährlichen, Unheimlichen, Verbotenen und Unsauberen andererseits. 13 Eines kann man über das Tabu mit Sicherheit sagen: dass es in stetem Widerspruch zum Normalen, Alltäglichen steht. Das Tabu hat zu tun mit dem Numinosen, dem Unbeschreiblichen, dem gänzlich unerklärlichen Geheimnis, mit etwas, das nicht wir sind. Zumindest reden wir uns das ein.
Dem Boxfan muss man die starke Anziehungskraft dieses Sports kaum erklären. Sie wurzelt offenbar in seiner paradoxen Natur – in der Wildheit, die ihm so deutlich innewohnt und die gleichzeitig von einer Unzahl von Regeln, Vorschriften, Bräuchen und abergläubischen Verhaltensweisen gezügelt wird. Er scheint das Alltägliche zu dem zu machen, was unheimlich, gefährlich, verboten und unsauber ist: Er ritualisiert die Gewalt, vor allem die männliche Gewalt, so sehr, dass sie zu einem ästhetischen Prinzip wird. Dabei wird der Körper des Mannes (oder vielmehr der hochtrainierte Einsatz seines Körpers) zum Instrument und ist nicht mehr nur Fleisch wie der unsere. Dass ein Mann als Boxer reine Aktion ist, kein Mann oder Mensch mehr im eigentlichen Sinne, verwirrt uns, die wir uns als rational handelnde Wesen verstehen. Die romantischen Prinzipien des Existenzialismus im weitesten, populärsten Sinne haben viel zu tun mit Selbstbestimmung und dem Willen, sich durch frei gewähltes Handeln als ethisches Wesen selbst zu erschaffen. Mehr als die meisten amerikanischen Sportarten unserer Tage lässt sich das Boxen eindeutig in einer Dimension menschlichen Verhaltens verorten, die man meta-ethisch oder meta-existenziell nennen könnte. Es gibt keine klar ersichtliche Verwandtschaft zwischen dem Mann außerhalb des Ringes und dem im Ring, dem Boxer, der wie Mike Tyson (oder Joe Louis, Rocky Marciano oder jeder andere Boxer von Rang und Namen) im Privatleben «höflich», «gewinnend» und «freundlich» ist und im Ring, sobald der Gong ertönt, «brutal», «furchterregend», «mörderisch», «verheerend», «ein junger Bulle» und so weiter. Sein Ziel ist es nicht, den Gegner zu töten, denn der Gegner ist schließlich ein Bruder; sein Ziel ist es, ihn vorübergehend lahmzulegen, den Tod zu simulieren. «Es ist unglaublich», hat Mike Tyson über das Boxen gesagt. «Es ist wie eine Droge, ich bin dann richtig gut drauf. Die Veranstaltung als solche erregt mich, und inzwischen brauche ich diese Erregung ständig.»
Wenn der Boxer in den Ring steigt, sich zeremoniell entkleidet und der Aufforderung zum Kampf folgt, hört er auf, ein Individuum zu sein, und entsagt allem, was eine gesellschaftlich geregelte ethische Verbindung zu anderen Individuen mit sich bringt; er wird ein Boxer, und das heißt reines Handeln. Man könnte behaupten, dass Amerikas Begeisterung für den Sport – wenn «Begeisterung» nicht ein zu schwaches Wort ist für solch wahnsinnige Hingabe, Wochenende für Wochenende, Saison für Saison im Leben der meisten Männer – nicht nur zu tun hat mit der Macht des Tabus, konventionelle Moralvorstellungen zu verletzen, zu überschreiten oder überholt wirken zu lassen, sondern mit der dunklen, geleugneten, gedämpften, in den Schatten gedrängten und niemals in Worte gefassten Kehrseite der amerikanischen Religion vom Erfolg. Im Sport geht es nicht nur ums Gewinnen, sondern auch ums Verlieren. Scheitern, Schmerz, Schmach und Schande, Körperverletzung, manchmal sogar der Tod – dies alles gehört zum Leben, ist vielleicht der Kern des Lebens, den der Sportler oder Wettkämpfer wie ein Schauspieler verkörpern muss – immer gegen seinen Willen. Das Boxen als Traumbild oder Albtraum spielt das eine Ich gegen das andere aus, den einen Zwilling gegen den anderen, wie im Mutterleib, wo sich die Dominanz, dieses geheimnisvollste menschliche Verlangen, zum ersten Mal Ausdruck verschafft. Die charakteristischen Augenblicke der Ekstase – kurz vor dem Knock-out, der Knock-out selbst, seine Auswirkungen und, in der Wiederholung im Fernsehen, der ganze Vorgang noch einmal in Zeitlupe, intim wie ein Traum − sind vom Obszönen, Entsetzlichen nicht zu
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