Über das Haben
Sympathien: dem Opfer, dem Täter, dem Verführer? Und hat Margarete mit ihren instinktiven Zweifeln an der nicht sehr christlichen Frömmigkeit des verliebten Galans Faust hinter dessen Rücken vielleicht auch den Autor selbst getroffen? Dazu steht manches in den anderen Werken Goethes zu lesen, zum Beispiel in diesem Vierzeiler aus den «Zahmen Xenien»:
Wer Wissenschaft und Kunst besitzt,
HAT auch Religion.
Wer jene beiden nicht besitzt,
Der HABE Religion.
Was hier allerdings Religion bedeutet, möchte wohl manch einer noch genauer wissen – und kann es auch in der gelehrten Goethe-Literatur, zum Beispiel bei Hans-Jürgen Schings, gut erklärt finden.[ 2 ]
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DIE NUR NOCH SICH SELBER HABEN: ROMEO UND JULIA AUF DEM DORFE – MIT GOTTFRIED KELLER
In einer Vorlesung von 1821/22 zur Philosophie des Rechts hat Hegel den Satz formuliert: «Das ist die erste Bedingung eines Bürgers, dass er Person IST und Privateigentum HAT »[ 1 ]. Mit diesem Lehrsatz hat der Philosoph nach SEIN und HABEN den Besitzbürger definiert, so wie er in der Neuzeit die Bühne der Geschichte betreten hat. Es ist der Bürger oder Bourgeois, der auch bereit und willens ist, sein Privateigentum als Vermögen wirtschaftlich zu mobilisieren, damit es sich mehrt und «Wachstum» hervorbringt.
Welche Veränderungen und Verwerfungen aus diesem dynamischen NEU-HABEN des Besitzbürgers im Kontrast zu dem konservativen ALT-HABEN des adeligen oder bäuerlichen Grundbesitzers entstanden sind und welche Gegenkräfte des proletarischen NICHT-HABENS dadurch geweckt wurden, ist kontroverser Gegenstand vieler Geschichtsbücher. Wie weit jedoch diese Konflikte, von den industriellen Zentren ausgehend, auch die bäuerliche Peripherie verstört haben, wird am zuverlässigsten von der Literatur dokumentiert. Als literarische Fallstudie für diese Verhältnisse scheint mir die viel gelesene Novelle «Romeo und Julia auf dem Dorfe» des Schweizers Gottfried Keller aus dem Jahre 1856 gut geeignet zu sein.[ 2 ]
Warum nur diese kleine dörfliche Geschichte und nicht Shakespeares großes Drama mit dem bekannteren Unglückspaar Romeo und Julia aus Verona? Weil der Familienkonflikt, der bei Shakespeare in die Tragödie mündet, in Adelskreisen spielt und in erster Linie machtpolitisch motiviert ist. Bei Keller sind es demgegenüber die rein wirtschaftlichen Faktoren Besitz und Eigentum, die das junge Paar Salomon und Veronika, in der Novelle Sali und Vrenchen genannt, in den Tod treiben.
*
Handlungsort der Novelle ist ein namentlich nicht genanntes Dorf in der Schweiz. Die beiden Bauern Manz und Marti könnten wohl mit ihren Familien von dem Ackerland, das sie besitzen, sorgenfrei existieren. Unbeschwert wachsen auch ihre Kinder heran: Sali im Hause Manz und Vrenchen im Hause Marti. Jede der beiden Familien könnte also zufrieden und glücklich leben.
Nun will es aber der Zufall, dass zwischen dem Grundbesitz des einen und des anderen Bauern ein ungefähr gleich großes Stück Ackerland liegt, für das kein Eigentümer zu ermitteln ist. Auf dieses Stück Land richtet sich mit wachsender Begierde das wirtschaftliche Interesse der Männer, die sich beide HABGIERIG ausmalen, welchen Vorteil sie davon HÄTTEN , wenn ihnen dieser Acker auch noch gehörte. Solange nun die Rechtslage von Amts wegen ungeklärt ist, lenken die beiden Bauern im stillschweigenden Einvernehmen den Pflug immer so, dass ein Streifen nach dem andern von dem herrenlosen Acker mit untergepflügt und dem eigenen Besitz zugeschlagen wird. Zugleich laden sie von beiden Seiten alles lästige Gestein und Gestrüpp auf dem brachliegenden Mittelstreifen ab, so dass sie mit der Zeit, im doppelten Sinne des Wortes, immer mehr aneinander geraten.
Streit und Zank bleiben jetzt nicht mehr aus. Sie entzünden sich vor allem an den Schnörkeln, Zipfeln und krummen Ecken, mit denen bald der eine, bald der andere beim Pflügen seinen Vorteil zu mehren sucht. Denn «alles muss zuletzt eine ordentliche grade Art HABEN , […] wie nach dem Richtscheit gezeichnet». Schließlich gehen eines Tages die beiden Streitenden auf einem Brückensteg (das ist ein altes Fabelmotiv!) wie «wilde Tiere» aufeinander los und schlagen mit Fäusten aufeinander ein. Es resultiert daraus ein langjähriges Prozessieren, bei dem keiner nachgeben will: «Je mehr Geld sie verloren, desto sehnsüchtiger wünschten sie welches zu HABEN , und je weniger sie BESASSEN , desto hartnäckiger dachten sie reich zu werden und es dem
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