Über das Sterben
(siehe Kapitel 3), eine Stärkung der allgemeinen und speziellen Palliativversorgung sowie eine gezielte Förderung der palliativmedizinischen Forschung und der Forschung über prognostische Faktoren bei schweren Krankheiten.
Palliativmedizinische Unterversorgung
Der häufigste Fehler bezüglich der palliativmedizinischen Versorgung ist immer noch, dass viel zu spät daran gedacht wird.Ärzte begegnen in Krankenhäusern der Bitte von Angehörigen nach Einschaltung des Palliativdienstes nicht selten mit der Antwort: «Er ist doch noch nicht sterbend!» oder: «Wir haben noch nicht alle Therapiemöglichkeiten ausgeschöpft.» Die Kehrseite der Medaille ist, dass die palliativmedizinischen Dienste oft mit der Aura der «Todesengel» ummantelt sind, während sie eigentlich frühzeitig eingebunden werden sollten, wie eine bahnbrechende Studie aus den USA gezeigt hat.
Im August 2010 wurde in der angesehensten medizinischen Fachzeitschrift der Welt, dem
New England Journal of Medicine,
eine Studie von Jennifer Temel und Mitarbeitern aus der Harvard Medical School in Boston publiziert,[ 5 ] bei der zwei Gruppen von Patienten mit fortgeschrittenem metastasiertem Lungenkrebs verglichen wurden. Die erste Gruppe bekam die übliche Therapie. Bei der zweiten Gruppe wurde frühzeitig die Palliativmedizin in die Betreuung integriert. Die Zuordnung der Patienten zu den beiden Gruppen erfolgte zufallsgesteuert. Der Gruppenvergleich ergab folgendes Ergebnis: Die Patienten in der Gruppe mit frühzeitiger Palliativbetreuung hatten eine bessere Lebensqualität, eine geringere Rate an depressiven Symptomen und bekamen weniger häufig aggressive Therapien (Chemotherapie, Bestrahlung usw.) am Lebensende, was gleichzeitig eine Kostenreduktion bedeutet. Diese Ergebnisse sind für sich genommen nicht sehr überraschend, denn die Verbesserung der Lebensqualität durch eine gute Palliativbetreuung ist inzwischen in Hunderten von Studien nachgewiesen worden. Was aber einen Perspektivwechsel in der modernen Medizin einleiten könnte, ist die Tatsache, dass die Patienten in der Palliativgruppe außerdem eine
signifikant längere Überlebenszeit
im Vergleich zur Kontrollgruppe aufwiesen. Der Unterschied betrugfast drei Monate. Ein solches Ergebnis würde bei Medikamentenstudien zur Therapie von fortgeschrittenem Lungenkrebs in der Pharmabranche als wegweisender Therapieerfolg gelten und das entsprechende Medikament weltweit mit großem Aufwand beworben werden.
Die Lösung ist auch hier wieder im Dialog zu suchen: Bald werden (hoffentlich) alle größeren Krankenhäuser in Deutschland zumindest über einen palliativmedizinischen Konsiliardienst verfügen. Ein Konsiliardienst ist ein fachspezifisches Angebot zur Beratung über die optimale Therapie und Mitbetreuung von Patienten, das von Ärzten anderer Fachrichtungen angefordert werden kann. Sie sollten als Patient oder Angehöriger (aber natürlich auch als Arzt oder Pflegekraft, Seelsorger oder Sozialarbeiter) im Verlauf einer lebensbedrohlichen Krankheit
frühzeitig
auf eine Einschaltung palliativmedizinischer Dienste drängen. Spätestens wenn die Krankheit eine Entwicklung nimmt, bei der der Tod absehbar ist, auch wenn er noch Jahre entfernt sein kann (z.B. bei Krebserkrankungen beim Auftreten von mehreren Tochtergeschwülsten trotz Therapie), sollte der Erstkontakt zur Palliativmedizin erfolgen. Bei der Palliativmedizin geht es vor allem um das Leben mit einer Erkrankung und nicht nur um das Sterben. Die oben erwähnte Studie verdeutlicht dies auf eindrucksvolle Weise.
Wenn bei schwerer Krankheit und starken Beschwerden eine Betreuung zu Hause gewünscht wird, sollte man beim behandelnden Klinik- oder Hausarzt unbedingt die Verordnung einer Spezialisierten Ambulanten Palliativversorgung (SAPV, siehe Kapitel 3) anregen. Wenn seitens der Krankenkassen die Gewährung dieser Leistung abgelehnt wird, obwohldie Voraussetzungen für eine SAPV vorliegen, sollte man widersprechen und notfalls Rechtsmittel einlegen.
Unnötige Sedierung
Eine Standardsituation am Lebensende im Krankenhaus: Ein Patient wird von den Ärzten als «Sterbender» identifiziert. Er kann zu diesem Zeitpunkt meistens nicht mehr kommunizieren, ist aber häufig noch wach und manchmal etwas unruhig. Aber unabhängig davon, ob Unruhe oder andere Zeichen des Leidens vorhanden sind (deren Ursache man dann versuchen sollte herauszufinden), bekommen Sterbende in Krankenhäusern neuerdings fast automatisch einen sogenannten
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