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Über das Sterben

Über das Sterben

Titel: Über das Sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gian Domenico Borasio
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durchbrechen, ist es oft notwendig, zwei Medikamente gleichzeitig zu geben: eines gegen Atemnot und eines gegen Angst. So weit, so logisch.
    Die wirksamsten Medikamente für diese Indikationen sind Morphin gegen die Atemnot und Benzodiazepine gegen die Angst. Und hier fängt das Problem an: In so gut wie allen medizinischen Lehrbüchern steht bis heute, dass diese Medikamente bei Patienten mit Atemproblemen nicht angewendet werden dürfen, da sie eventuell eine zum Tode führende Verringerung des Atemantriebs («Atemdepression») auslösen könnten.
    Diese Fehlvorstellung ist zwar wissenschaftlich längst widerlegt: Die ersten Daten zur Wirksamkeit und Sicherheit von Morphin bei Atemnot stammen aus dem Jahr 1993.[ 6 ] 2002 publizierten Jennings und Mitarbeiter eine erste sogenannte Metaanalyse, in der zwölf verschiedene Studien zusammengefasst wurden. Die Wirksamkeit und Sicherheit von Morphin bei Atemnot war damit eindrucksvoll belegt,[ 7 ] viele weitere Studien haben dies seitdem bestätigt. Trotzdem haben viele Ärzte immer noch Angst davor, Morphin bei Atemnot einzusetzen – und das, obwohl die gegen Atemnot wirksamen Dosierungen meist sogar unterhalb derjenigen in der Schmerztherapie liegen.
    Bestehen Sie also in jedem Fall darauf, dass Atemnot wirksam mit den richtigen Medikamenten behandelt wird. Patienten mit wiederkehrender Atemnot müssen diese Medikamente für den Notfall fertig zubereitet zu Hause vorrätighaben. Die Angehörigen müssen gegebenenfalls angeleitet werden, wie man diese Medikamente unter die Haut (subkutan) verabreicht, damit beim Auftreten von Atemnot keine unnötige Zeit bis zur Symptomlinderung verloren geht. Akute Atemnot ist, noch mehr als Schmerzen, ein medizinischer Notfall, der sofortiges Handeln erfordert. Wenn das unterbleibt, können die Folgen fatal sein:
    Der noch junge Patient litt an einem fortgeschrittenen Lungenkrebs. Er hatte sich auf eigenen Wunsch von der Station entlassen und war seit drei Tagen zu Hause, als er vom Notarzt wieder in die Nothilfe gebracht wurde, mitten in der Nacht. Sein Zustand hatte sich verschlimmert; er litt an quälender Atemnot. Der junge Assistent in der Nothilfe wusste sich nicht anders zu helfen, als den Patienten auf Station aufzunehmen, ohne ihm aber wirksame Medikamente zu geben. Der Oberarzt solle sich das erst mal ansehen. Dieser hatte aber zunächst keine Zeit. Der Patient rief nach der Nachtschwester, ein-, zwei-, dreimal, die zunehmende Atemnot trieb ihn in eine regelrechte Panikattacke. Nach dem dritten Klingeln dauerte es fünf Minuten, bis die Schwester kommen konnte. Als sie das Zimmer betrat, hatte sich der Patient aus dem Fenster gestürzt. Er war sofort tot.
Psychosoziale/spirituelle Probleme
Keine Hilfe annehmen können
    Das ist eine der größten Schwierigkeiten in der psychosozialen Versorgung von Palliativpatienten und ihren Familien und eine ständige Quelle der Frustration für alle psychosozialen Mitarbeiter in ambulanten wie stationären Palliativteams: Man hat viel Arbeit investiert und gute Ideen und Angeboteentwickelt, wie die psychische und soziale Situation des Patienten und seiner Familie verbessert und stabilisiert werden könnte (Einschaltung von Pflegediensten, von Nachbarschaftshilfe, von Sozialdiensten bzw. Hospizvereinen, Organisation von Hilfsmitteln, Vermittlung psychologischer Hilfsangebote usw.), und die Betroffenen weigern sich einfach, die angebotene Hilfe anzunehmen. Sie wollen «alles allein machen», gutes Zureden ist zwecklos.
    Was sind die Ursachen für ein solches Verhalten, das – von außen betrachtet – selbstschädigende Züge aufzuweisen scheint? Wie so oft am Lebensende: vor allem Ängste. Einige Beispiele:
    Für Patienten:
die Angst vor dem Verlust der eigenen Unabhängigkeit, vor dem Verlust der Privatsphäre (wenn Fremde in die Wohnung kommen), vor dem Verlust des Partners als bevorzugte Pflegeperson, vor dem Schamgefühl, wenn man auf fremde Hilfe angewiesen ist, vor dem Kontrollverlust, vor dem sozialen Stigma des «Pflegefalls» usw.
    Für Angehörige:
die Angst vor dem Verlust der eigenen Rolle als pflegender Angehöriger (die nicht selten Schuldgefühle gegenüber dem Partner kompensieren hilft), vor dem «Versagen» in dieser Rolle und vor dem sozialen Druck von außen («Das hättest du doch auch allein hinbekommen [müssen]!»), vor dem Verlust der Intimität, gelegentlich auch vor dem Verlust des Pflegegeldes, auf das die Familie finanziell angewiesen ist usw.
    Diese Ängste

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