Über das Sterben
starken Schmerzmitteln wie Morphin und starken Beruhigungsmitteln wie Benzodiazepine (z.B. Valium) bei Sterbenden nicht erlaubt sei, weil sie aufgrund ihrer atemdepressiven Nebenwirkungen den Todeseintritt beschleunigen könnten. Das stimmt zwar nicht (siehe unten), wäre aber nach der Lehre des Doppeleffektes erlaubt, was auch Eingang in die deutsche Rechtsprechung gefunden hat: Der Bundesgerichtshof hat ausdrücklich festgestellt, dass es erlaubt und sogar geboten ist, schmerzlindernde Medikamente auch in einer Dosis zu verabreichen, die als unbeabsichtigte Nebenwirkung die Sterbephase verkürzen könnte, wenn es keinen anderen Weg zur ausreichenden Schmerzlinderung gibt.[ 9 ]
Die gute Nachricht für alle Beteiligten: Auf das Rechtskonstrukt der «indirekten Sterbehilfe» kann in Zukunft verzichtet werden. Hierzu gibt es sehr gute wissenschaftliche Daten aus der Palliativforschung, die 2003 von Nigel Sykes und Andrew Thorns zusammengefasst worden sind.[ 10 ] Die Autoren haben eine Gesamtübersicht von 17 veröffentlichten Studien erstellt, die zusammen über 3000 verstorbene Patienten umfassten. Die Ergebnisse sind eindeutig. Es gab weder bei den einzelnenStudien noch bei der Gesamtheit der erhobenen Daten einen Hinweis auf eine Lebensverkürzung durch zum Teil sehr hohe Dosierungen von Opioiden (z.B. Morphin) oder Sedativa (z.B. Benzodiazepine) in der letzten Lebensphase. In einer Studie gab es sogar Hinweise auf eine lebensverlängernde Wirkung einer medizinisch indizierten Sedierung am Lebensende.
Diese Daten entsprechen unserer Erfahrung in der palliativmedizinischen Praxis. Es ist nachvollziehbar, dass ein Mensch, der, aus welchen Gründen auch immer, sehr stark leidet und eine Linderung dieses Leidens durch entsprechende Medikamente erfährt, im Zweifelsfall eher etwas länger lebt und nicht kürzer. Dazu noch ein kleines Fallbeispiel:
Unsere Palliativstation bekam einmal einen Patienten von einer Intensivstation zugewiesen. Die Kollegen hatten die Morphindosierung bei dem unter starken Schmerzen leidenden Patienten in bester Absicht innerhalb von 24 Stunden von 0 auf 48 mg Morphin intravenös pro Stunde erhöht. Den Ärzten unter den Lesern wird bei dieser Zahl bange werden, denn das entspricht 3,5 Gramm Morphin oral pro Tag – eine Elefantendosis. Jeder rechtsmedizinische Gutachter würde bei solch einer Dosierung sagen, dieser Patient hätte sofort tot sein müssen. Das war er aber nicht. Als er zu uns auf die Station gebracht wurde, hat der Patient noch selbst geatmet – ein bisschen langsam zwar, aber eigenständig. Eine Verringerung der Morphinmenge auf ein Hundertstel der Dosis ermöglichte dem Patienten einen friedlichen Tod bei guter Beschwerdelinderung.
Dieses Beispiel zeigt eindrucksvoll, dass die genannten Medikamente sehr sicher sind und dass die zum Teil irrationaleAngst vor Morphin, die nicht nur Ärzte, sondern gelegentlich leider auch Staatsanwälte und Richter befällt, unbegründet ist. Wenn diese Medikamente korrekt verabreicht werden, ist eine tödliche Nebenwirkung durch Hemmung der Atemtätigkeit im Grunde ausgeschlossen.
Beim Deutschen Juristentag 2006 wurde vorgeschlagen, die Voraussetzungen für die Straflosigkeit einer nach den Regeln der medizinischen Kunst durchgeführten «Leidenslinderung bei Gefahr der Lebensverkürzung» gesetzlich zu regeln. Es erscheint aber zweifelhaft, ob für eine Situation, die in der Praxis bei korrekter Medikamentenanwendung so gut wie nie vorkommt, wirklich eine eigene strafrechtliche Regelung notwendig ist. Zwar ist in der Ärzteschaft die Fehlvorstellung nach wie vor weit verbreitet, dass hohe Dosierungen von schmerzlindernden Mitteln gefährlich und daher verboten seien. Es ist davon auszugehen, dass solche Unkenntnisse auch zu Behandlungsfehlern am Lebensende führen. Der beste Schutz vor ärztlichen Kunstfehlern am Lebensende besteht aber nicht in neuen Strafgesetzen, sondern in einer besseren Aus-, Fort- und Weiterbildung aller Ärzte im Fach Palliativmedizin (siehe Kapitel 3).
Neue Begrifflichkeit
Der Begriff «Sterbehilfe» ist eine deutsche Besonderheit. Es gibt keinen gleichlautenden Begriff im internationalen Schrifttum, weder im Englischen als der anerkannten Wissenschaftssprache noch im Italienischen oder Französischen. Der Begriff hat, wie dargestellt, mehrere Nachteile und kann leicht missverstanden werden. Daher schlagen alle Experten einmütig die Abschaffung der Begriffe «aktive», «passive» und«indirekte
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