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Über das Sterben

Über das Sterben

Titel: Über das Sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gian Domenico Borasio
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schädlich sind, ist keine «passive Sterbehilfe», sondern nur gute Medizin.
    Eine große Schwierigkeit beim Umgang mit dem Begriff «passive Sterbehilfe» rührt daher, dass dieses juristische Konstrukt auch Handlungen umfasst, die nach dem gesunden Menschenverstand als aktiv zu bezeichnen sind. Beispielsweise ist die Beendigung einer künstlichen Beatmung ein aktiver Vorgang insofern, als eine laufende Maschine aktiv zum Stillstand gebracht werden muss – jemand muss also den Abschaltknopf drücken oder den Stecker ziehen. Allerdings setzen auch medizinische Behandlungen, die über einen längeren Zeitraum hinweg erfolgen, das Einverständnis des behandeltenPatienten voraus, das jederzeit zurückgezogen werden kann. Juristen wie Ethiker sehen daher zu Recht keinen Unterschied darin, ob man eine medizinische Maßnahme nicht beginnt oder ob man sie nicht weiterführt, also beendet. Auch die Bundesärztekammer hat sich, noch vor dem Inkrafttreten des neuen Patientenverfügungsgesetzes, dieser Meinung angeschlossen.[ 5 ] Diese unter Fachleuten auch international unumstrittene Gleichsetzung von Tun und Unterlassen im Rahmen der «passiven Sterbehilfe» war bis vor wenigen Jahren noch vielfach unbekannt, selbst bei denen, die es hätten besser wissen können.
    In einer Umfrage bei deutschen neurologischen Chefärzten konnte 2004 nachgewiesen werden, dass über die Hälfte der Befragten das Abschalten eines Beatmungsgeräts auf ausdrücklichen Wunsch eines geschäftsfähigen Patienten fälschlicherweise als Tötung auf Verlangen einstufte. 47 Prozent der Befragten schätzten die eigene Ausbildung für eine Begleitung in der Sterbephase als «mäßig» bis «schlecht» ein.[ 6 ] Nicht besser sah es zur gleichen Zeit bei den Vormundschaftsrichtern (heutige Bezeichnung: Betreuungsrichter) aus: Etwa die Hälfte von ihnen brachte in einer Umfrage die Begriffe «aktive», «passive» und «indirekte» Sterbehilfe durcheinander, insbesondere wenn es um eine Beendigung statt eines Verzichts auf lebenserhaltende Maßnahmen ging.[ 7 ]
    Es gibt gleichwohl einen wichtigen Unterschied zwischen dem Initialverzicht auf eine Behandlung und der Beendigung schon eingeleiteter lebenserhaltender Maßnahmen. Dieser Unterschied beruht allerdings weder auf juristischen noch auf ethischen Gründen, sondern ist rein psychologischer Natur:
    Es ist nun einmal so (und auch wissenschaftlich nachgewiesen), dass es für alle Mitglieder des Behandlungsteams, allen voran Ärzte und Pflegende, ungleich belastender ist, schon begonnene Maßnahmen zu beenden, als sie gar nicht erst einzuleiten. Dieser Unterschied sollte weder in die falsche (ethisch-rechtliche) Ebene gehoben noch kleingeredet werden. Denn nicht nur Familie und Freunde, auch Ärzte und Pflegende müssen mit dem Tod eines Menschen und dessen Umstände weiterleben. Hier hat es sich in der Praxis bewährt, dem Team Unterstützung durch Psychologen oder Seelsorger anzubieten, die in Gesprächen die Ängste und Sorgen der Teammitglieder aufgreifen und auch nach dem Tod des Patienten für Rücksprachen zur Verfügung stehen.
    Um die Verwirrung um die Frage «Unterlassen oder aktives Tun» aus der Welt zu schaffen, hat der Bundesgerichtshof in einer wegweisenden Entscheidung vom 25. Juni 2010 im sogenannten «Fall Putz» (Aktenzeichen 2 StR 454/09) diese Begriffe durch den Begriff des «Behandlungsabbruchs» ersetzt und festgestellt:
    1. Sterbehilfe durch Unterlassen, Begrenzen oder Beenden einer begonnenen medizinischen Behandlung (Behandlungsabbruch) ist gerechtfertigt, wenn dies dem tatsächlichen oder mutmaßlichen Patientenwillen entspricht (§ 1901a BGB) und dazu dient, einem ohne Behandlung zum Tode führenden Krankheitsprozess seinen Lauf zu lassen.
    2. Ein Behandlungsabbruch kann sowohl durch Unterlassen als auch durch aktives Tun vorgenommen werden.
    Damit ist – zumindest in dieser Hinsicht – endlich Rechtsklarheit geschaffen worden.
«Indirekte Sterbehilfe»
    Das ethische Konstrukt, das der sogenannten «indirekten Sterbehilfe» zugrunde liegt, ist nicht neu: Es stammt vom hl. Thomas von Aquin (1225–1274) und nennt sich «die Lehre des Doppeleffekts» (lateinisch:
actio duplicis effectus
). Nach dieser Theorie ist eine Handlung sittlich erlaubt, wenn sie einem guten Zweck dient und eine negative Nebenfolge zwar billigend in Kauf genommen, aber nicht als Handlungszweck oder Mittel zum Zweck intendiert wird.[ 8 ]
    Über Jahrzehnte hinweg wurde angenommen, dass die Gabe von

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