Ueber den Himmel hinaus - Roman
den Schultern. »Es ist mein erster Kinofilm. Ein kleiner Schritt. Und außerdem kann ich sämtliche Ausgaben von der Steuer absetzen.«
Natalja traute ihren Ohren nicht. Wie konnte er von Steuern reden, wenn sie vor dem Scherbenhaufen ihrer Karriere stand? »Ich muss hier raus.« Sie sprang auf und
hätte ihn beinahe angerempelt, als sie an ihm vorbei nach draußen lief. Warum zum Teufel musste das Wetter ausgerechnet heute so schön und mild sein? Warum konnte es nicht in Strömen regnen? Sie wollte nur noch nach Hause und sich verstecken. Das Leben war so gar nicht wie ein Film. Sie hatte das Drehbuch vergessen, ihren Text durcheinandergebracht und das Happy End aus den Augen verloren.
Natalja erwachte frühmorgens und ging zum Kiosk, um die Zeitungen zu besorgen. In den meisten wurde Skin Crawlers gar nicht erst besprochen, aber die zwei Kritiken, die sie fand - beide mit riesigen Fotos von ihr -, waren vernichtend. Sie schaltete den Computer ein, suchte im Internet nach weiteren Besprechungen. Ein Flop. Peinlich. Perfekt besetzt mit Natalie Chernoff als hirnloser Sexbombe. Sie öffnete ihr E-Mail-Programm. Eine Nachricht von Rupert: Glückwunsch! Das war der schlechteste Film, den ich je gesehen habe.
Sie begann zu weinen, vergoss dicke Tränen des Selbstmitleids, konnte gar nicht mehr aufhören zu schluchzen. Sie war gescheitert, sie war einsam, sie wurde mit jeder Sekunde älter. In ein paar Wochen wurde sie fünfunddreißig! Sie brauchte Abstand. Sie musste fort von London, fort von der Szene, zu der sie sich so verzweifelt wieder Zutritt zu verschaffen versuchte.
Sie schluckte ihre Tränen hinunter und griff zum Telefon, um Lena und Sam im Hotel anzurufen.
»Natalja?«, sagte Lena. »Ich habe mir Sorgen um dich gemacht.«
»Ich bin am Ende«, schluchzte Natalja. »Kann ich mit euch nach Briggsby fahren?«
Eigentlich hatte sie bloß ein paar Tage bei Lena und Sam verbringen wollen, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen und zu überlegen, was sie als Nächstes tun sollte. Doch dann wurde in einem Haus auf der gegenüberliegenden Straßenseite eine Wohnung frei, und sie interpretierte es als Zeichen. Sie unterschrieb einen Mietvertrag und beschloss, eine sechsmonatige Pause einzulegen, fern von London, um über ihr Leben nachzudenken und etwas Zeit mit ihrer Schwester zu verbringen.
Nachdem sie so lange in London gelebt hatte, wo man oft nach Jahren noch nicht wusste, wer eigentlich nebenan wohnte, fand sie es überaus tröstlich, einen geliebten Menschen ganz in der Nähe zu haben. Sie genoss es, auf der Straße stehen zu bleiben und mit den Leuten aus der Nachbarschaft zu plaudern. So lächelte sie sich durch die Tage; nur nachts, wenn sie allein war, holten die Schatten sie ein.
Sie war so mit ihren eigenen Problemen beschäftigt, dass es einen Monat dauerte, bis ihr auffiel, dass es zwischen Lena und Sam kriselte. Normalerweise gingen die beiden sehr liebevoll und zärtlich miteinander um, hielten Händchen, kuschelten, küssten sich hemmungslos, und Natalja hatte sie unzählige Male darum beneidet. Doch in letzter Zeit hatte sie keinerlei körperliche Nähe zwischen ihnen beobachtet. Sie nahm Lena beiseite und fragte sie nach der Ursache, doch diese wollte wie üblich nicht zugeben, dass etwas nicht in Ordnung war.
»Wir haben viel um die Ohren«, sagte sie nur. »Die Arbeit, die Kinder …«
War das etwa eine versteckte Kritik an Nataljas Müßiggang? Vielleicht würde es Lena und Sam ja guttun, wenn sie etwas mehr Zeit füreinander hatten. Natalja erbot sich auf der Stelle, drei Nachmittage pro Woche auf die Zwillinge
aufzupassen, die sie mittlerweile richtig gern um sich hatte. Sie kaufte zwei Eimer Lego für Matthew, und Anna war zufrieden, solange sie im Kleiderschrank und im Schminkkoffer ihrer Tante stöbern durfte.
Doch das Verhältnis zwischen Lena und Sam entspannte sich nicht, im Gegenteil. Also beschloss Natalja, sich ihren Schwager vorzuknöpfen.
An einem strahlend blauen Sonntagvormittag überquerte sie die Straße und klopfte bei den beiden. Matthew öffnete.
»Hallo, Tante Nat«, begrüßte er sie. »Soll ich Mum holen?«
»Eigentlich brauche ich deinen Vater. Ich möchte den Fernseher woanders hinstellen, und das schaffe ich nicht allein. Meinst du, er würde mir helfen?«
Matthew verschwand, und ein paar Minuten später tauchte Sam auf. Er knöpfte sich sein Hemd zu.
»Entschuldige, ich war noch im Schlafanzug.«
»Mir war gar nicht klar, dass es noch so früh
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