Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Ueber Deutschland

Titel: Ueber Deutschland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Germaine de Staël
Vom Netzwerk:
übermäßige Stärkung eines einzeln Theils so leicht verdirbt.
    Nichts ist weniger anwendbar auf das Leben, als ein mathematisches Raisonnement. Ein Satz in Zahlen ist entweder entschieden falsch oder wahr; in allen übrigen Beziehungen vermischt sich das Wahre mit dem Falschen auf eine so wunderbare Weise, daß nur der Instinkt uns zwischen verschiedenen Beweggründen, die auf beiden Seiten bisweilen gleich mächtig sind, zur Entscheidung führen kann. Indem das Studium der Mathematik zur Gewißheit gewöhnt, nimmt es uns gegen alle, der eigenen entgegenstehenden Meinungen ein; und doch ist die Hauptsache im Leben, Andere kennen zu lernen, d. h. alles aufzufassen, was sie bestimmt, anders zu denken und zu empfinden, wie wir. Die Mathematik verleitet uns, nur auf das Erweisbare einen Werth zu legen, indeß die ursprünglichen Wahrheiten, die, welche das Gefühl und das Genie fassen, keiner Demonstration empfänglich sind.
    Endlich unterwirft die Mathematik alles dem Calcul, und flößt uns dadurch zu viel Respekt für die Gewalt ein; und jene erhabene Energie, welche den Hindernissen trotzt und sich in Aufopferungen gefällt, vereinbart sich schwer mit der Gattung von Vernunft, welche algebraische Combinationen entwickeln.
    Es kommt mir also vor, als müsse man, sowohl zum Besten des Herzens, als des Geistes, das Studium der Mathematik in seine Zeit verlegen, und zwar nur als einen Theil des Gesammt-Unterrichts, nicht als Grundlage der Erziehung, und folglich nicht als bestimmendes Princip des Charakters und der Seele.
    Unter den Erziehungs-Systemen giebt es auch solche, die den Unterricht mit den Naturwissenschaften anzufangen rathen. Sie sind in der Kindheit ein bloßer Zeitvertreib; es sind gelehrte Spielereien, welche bewirken, daß man sich methodisch belustigt und oberflächlich studirt. Man hat sich eingebildet, daß man, so viel als immer möglich, den Kindern alle Anstrengung ersparen, alle Studien in Erholungen verwandeln und ihnen recht früh naturhistorische Sammlungen zu Spielwerken, und physikalische  Experimente zu Schauspielen geben müsse. Auch dies scheint mir ein irriges System zu seyn. Wäre es auch möglich, daß ein Kind spielend etwas Wichtiges lernen könnte, so würde ich noch immer die unterbliebene Entwickelung einer Fähigkeit bedauern, nehmlich der Aufmerksamkeit; eine Fähigkeit, welche ungleich wesentlicher ist, als eine Kenntniß mehr. Ich weiß, man wird mir sagen, die Mathematik schärfe vor allem die Aufmerksamkeit; aber sie gewöhnt nicht zum Sammlen, zum Würdigen, zum Concentriren. Die Aufmerksamkeit, die sie verlangt, ist so zu sagen, geradlinigt. In Dingen der Mathematik ist der menschliche Geist thätig, wie eine Springfeder, die ewig dieselbe Richtung nimmt.
    Die Erziehung, welche spielend geschieht, zerstreut den Gedanken. Die Mühe in jeder Art ist eins von den großen Geheimnissen der Natur, und der Geist des Kindes muß sich zu den Anstrengungen des Studiums eben so gewöhnen, wie unser Herz zum Leiden. Die Vervollkommnung der Jugend steht zu der Arbeit in eben dem Verhältniß, wie die Vervollkommnung des reiferen Alters zu dem Schmerz. Es ist unstreitig zu wünschen, daß Eltern und Schicksal dieses doppelte Geheimniß nicht allzu sehr mißbrauchen; aber in allen Fächern des Lebens ist nur das von Wichtigkeit, was auf den Mittelpunkt der Existenz selbst hinwirkt, und man betrachtet das moralische Wesen zu sehr in Einzelnheiten. Ihr werdet mit Bildern, mit Charten euer Kind eine Menge Dinge lehren, nicht aber die Kunst zu lernen, und die Gewohnheit der Zerstreuung, die ihr auf die Wissenschaften hinleitet, wird bald einen anderen Lauf nehmen, wenn euer Kind nicht länger von euch abhängig ist.
    Also, gar nicht ohne Grund ist das Studium der alten und neueren Sprachen die Grundlage aller Erziehungsanstalten, welche die fähigsten Männer Europa's gebildet haben. Der Sinn einer Redensart in einer fremden Sprache ist zugleich ein grammatikalisches und intellectuelles Problem; und dieses Problem ist der Fassungskraft des Kindes ganz angemessen. Anfangs vernimmt es nur Wörter, dann erhebt es sich bis zum Verständniß der Redensart, und bald darauf macht sich dem übersetzenden Kinde der ganze Zauber des Ausdrucks – seine Stärke, seine Harmonie, kurz alles was sich in der Sprache der Menschen findet – allmählig fühlbar. Es versucht sich ganz allein mit den Schwierigkeiten, welche ihm zwei Sprachen zugleich darbieten; es führt sich allmählich in die Ideen ein,

Weitere Kostenlose Bücher