Über Gott und die Welt
von Manhattan ist ein Meisterwerk an lebendiger Architektur, bizarr wie das untere Zahngehege der Cowboy-Kathy, Wolkenkratzer und gotische Kathedralen bilden hier miteinander, was man »die größte steinerne Jam Session in der Geschichte der Menschheit« genannt hat. Auf der anderen Seite erscheinen hier auch das Gotische und das Neoklassische nicht als gesuchte Effekte, sondern als originärer Ausdruck des Revival-Bewußtseins der Zeit, in der sie errichtet wurden – und somit sind sie nicht falsch, jedenfalls nicht falscher als die Madeleine in Paris, und nicht unglaubwürdiger als die Mole Antonelliana in Turin.
Alles ist hier in eine längst homogen gewordene Stadtlandschaft integriert, denn die wahren Städte sind jene, die auch das architektonisch Häßliche urbanistisch erlösen. Vielleicht wäre in New York sogar die Ca’ d’Zan akzeptabel, so akzeptabel wie ihre zahlreichen Vorbilder am Canal Grande.
Tatsächlich lehrt uns ein guter urbaner Kontext, mit der Geschichte, die er repräsentiert, auch den Kitsch humorvoll zu sehen (und ihn somit zu bannen). Auf halbem Weg zwischen San Simeón und Sarasota gönnte ich mir einen Aufenthalt in New Orleans. Ich kam aus dem in Disneyland nachgebauten New Orleans und wollte nun meine Eindrücke an dem echten New Orleans überprüfen. Das echte New Orleans repräsentiert eine noch intakte Vergangenheit, denn das französische Vieux Carré ist einer der wenigen Orte, an denen die amerikanische Zivilisation noch nicht alles imitiert, nivelliert und rekonstruiert hat. Die Substanz der alten kreolischen Stadt ist erhalten geblieben, das Zentrum steht noch mit seinen niedrigen Häusern, seinen Veranden und Lauben aus Gußeisen, angerostet und abgegriffen, wie sich’s gehört, seinen windschiefen Bauten, die sich gegenseitig stützen, wie man es noch gelegentlich in Paris oder Amsterdam sehen kann, allenfalls neugestrichen, aber auch das nicht zu sehr. Gewiß, es ist nicht mehr Storyville, es ist nicht mehr Basin Street, es gibt nicht mehr die Bordelle mit roten Lampen, aber es gibt noch zahlreiche Stripteaselokale mit offener Tür zur Straße, umgeben von lärmend durcheinander-spielenden Bands, vorbeiströmenden Touristen und fl anierenden Müßiggängern. Das Vieux Carré entspricht in keiner Weise dem typischen Amüsierviertel einer amerikanischen Stadt, es ist eher ein direkter Ableger von Montmartre. In diesem subtropischen Zipfel Europas gibt es noch Restaurants mit Leuten, die aussehen wie in Vom Winde verweht, wo Kellner im Frack mit den Gästen über Variationsmöglichkeiten der lokalen Gewürze durch Sauce béarnaise diskutieren, oder auch solche, die auf verblüffende Weise einer echt mailändischen Brasera ähneln und sogar etwas von den Mysterien des Bollito col bagnetto verde verstehen (das sie dreist als kreolische Küche anbieten).
Auf dem Mississippi kann man noch eine Flußfahrt machen, sechs Stunden lang auf einem Raddampfer, der natürlich falsch ist, erbaut nach modernen technischen Kriterien, doch er bringt uns, vorbei an wilden Ufern, wo Alligatoren leben, bis nach Barataria, wo sich einst Jean Lafi tte mit seinen Piraten verbarg, bevor er zu General Jackson stieß, um mit ihm gegen die Briten zu kämpfen.
Infolgedessen gibt es in New Orleans noch Geschichte, unter dem Portiko des Presbytère liegt sogar, als vergessenes archäologisches Fundstück, eins der ersten U-Boote der Welt, mit dem die Truppen der Konföderierten im Sezessionskrieg Angriffe auf die Nachschubkähne der Yankees fuhren. New Orleans hat – wie New York – seine eigenen Fälschungen, die es kennt und historisiert; so gibt es zum Beispiel in manchen Patrizierhäusern Kopien des
»Napoleon auf dem Thron« von Ingres, denn im 19. Jahrhundert kamen viele französische Maler nach Louisiana, gaben sich als Schüler des großen Meisters aus und produzierten mehr oder minder verkleinerte, mehr oder minder gelungene Kopien; aber das war zu einer Zeit, als die Kopie in Öl die einzige Möglichkeit war, das Original bekannt zu machen, und die lokale Historiographie feiert diese Kopien als Dokumente der eigenen »Kolonialität«. Die Fälschung wird als »historisch« anerkannt und als solche bereits mit einer Aura von Echtheit umgeben.
Nun existiert in New Orleans auch ein Wachsmuseum, das der Geschichte Louisianas gewidmet ist. Gut gemachte Figuren, Kostüme und Ausstaffi erungen von einer ehrlichen Präzision. Aber das Klima ist anders als sonst, es fehlt hier die Atmosphäre
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