Über Gott und die Welt
Solange sie brav sind, bekommen sie Nahrung, was sie der Jagd nach Beute enthebt, und die Menschen lieben sie und schützen sie vor der Zivilisation. Es scheint, als wollte uns diese Marine World sagen, wenn Nahrung für alle da ist, bedürfe es keiner wilden Revolution, doch Nahrung bekomme nur, wer die vom Eroberer angebotene »Pax« akzeptiert. Was genau besehen nur eine soundsovielte Variation des Themas von der »Bürde des weißen Mannes« ist. Wie in den Afrikageschichten von Edgar Wallace: Immer ist es der Kommissar Sanders, der den Frieden auf dem großen Strom sichert, solange Bozambo nicht daran denkt, mit den anderen Häuptlingen ein unerlaubtes »Palaver«
zu organisieren – andernfalls wird er abgesetzt und gehängt.
Merkwürdigerweise sieht sich der Zuschauer in diesem
Ökologietheater nicht auf Seiten der Dompteure, sondern auf seiten der Tiere: Wie sie muß er festgelegte Programme befolgen, vorgezeichnete Wege gehen, sich im richtigen Augenblick setzen, Strohhüte kaufen, Lollipops kaufen, Dias kaufen, die das Schauspiel der wilden und harmlosen Freiheit verherrlichen. Die Tiere erlangen das Glück durch Vermenschlichung, die Zuschauer durch Vertierung.
Was die Vermenschlichung der Tiere betrifft, so enthält sie eine der strapazierfähigsten Ressourcen der Industrie des Absolut Falschen, und darum muß man die Marinelands mit jenen Wachsmuseen vergleichen, die den letzten Tag der Marie Antoinette rekonstruieren. In ihnen ist alles Zeichen, aber bestrebt, als Wirklichkeit zu erscheinen. In den Marinelands ist alles Wirklichkeit, aber bestrebt, als Zeichen zu erscheinen. Wenn die Killerwale den square dance tanzen und auf die Fragen ihrer Dompteure antworten, so tun sie das nicht, weil sie sprachliche Fähigkeiten erlangt hätten, sondern weil sie durch konditionierte Refl exe dazu gedrillt worden sind, doch wir interpretieren das Reiz-Reaktions-Verhältnis fälschlich als ein Bedeutungsverhältnis. Wie in der Unterhaltungsindustrie: Wenn Zeichen da sind, verkennen wir sie, und wenn keine da sind, glauben wir welche zu sehen. Bedingung des Vergnügens ist, daß etwas gefälscht worden sein muß. Und die Marinelands sind noch beunruhigender als andere Vergnügungsorte, da man in ihnen sozusagen schon die Natur erreicht – doch eine Natur, die sich in der Künstlichkeit annulliert, um gerade dadurch als unberührte Natur zu erscheinen.
Dies festgestellt, wäre es freilich Moralismus à la Frankfurter Schule aus zweiter Hand, hier noch weiter zu kritisieren. Diese Orte sind unterhaltsam, und gäbe es sie in unserer Vogeljägergesellschaft, so wären sie lobenswerte Erziehungsstätten. Die Liebe zur Natur ist eine Konstante des höchstindustrialisierten Volkes der Welt, fast ein Ausdruck von schlechtem Gewissen, so wie seine Liebe zur europäischen Kunst eine ewig ungestillte Leidenschaft ist. Ich würde sagen, die erste und unmittelbarste Kommunikationsebene dieser Welten der Wildnis ist positiv; beunruhigend ist die alle-gorische Botschaft, die sich der wörtlichen überlagert: die impli-zite Verheißung eines auf tierischer Stufe bereits verwirklichten
»Orwell-Staates«. Was da beunruhigt, ist kein teufl ischer Plan, den es nicht gibt. Es ist eine symbolische Drohung. Zu wissen, daß der Gute Wilde, wenn er in den tropischen Wäldern noch existiert, die Krokodile und Flußpferde tötet, und daß die Krokodile und Flußpferde, um zu überleben, sich der Fälschungsindustrie unterwerfen müssen, läßt einen verstört. Und ratlos.
Unsere Reise durch die Welten der Wildnis hat subtile
Zusammenhänge zwischen dem Kult der Natur und dem Kult der Kunst sowie der Geschichte zutage gefördert. Wir haben gesehen, daß man in diesem Amerika, um die Vergangenheit zu begreifen, auch die eigene, etwas vor Augen haben muß, das so genau wie möglich dem originalen Vorbild gleicht. Aber das gilt auch für die Gegenwart. Man kann nicht vom Weißen Haus oder von Cape Kennedy sprechen, ohne die Rekonstruktion des Weißen Hauses oder ein Miniaturmodell der Raketen von Cape Kennedy sichtbar vor Augen zu haben. Erkenntnis bildet sich nur ikonisch, durch konkrete Anschauung, und die Anschaulichkeit (Ikonizität) muß absolut sein. Dasselbe gilt für die Natur. Nicht nur das ferne Afrika, auch der »eigene« Mississippi muß greifbar-anschaulich neu erlebt werden: in Disneyland, als Rekonstruktion des Mississippi. Man stelle sich vor, es gäbe in Rom einen Park, der in verkleinertem Maßstab die toskanischen
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