Über Gott und die Welt
gewisse katholische Jugendverbände; es war bloß angesichts einer öffentlichen Meinung, die von totaler »Marxistifi zierung« der Jugend sprach, für die Nichtmarxisten schwerer, sich als organisierte Kraft mit einer gewissen Attraktion zu behaupten. Desgleichen hat der Erfolg des Vaterbildes, das der neue Papst ausstrahlt, wohl mehr mit dem spontanen Prozeß einer Rekonsolidierung von Autoritätsbildern im Moment einer Krise der Institutionen zu tun als mit dem Phänomen einer neuen Religiosität. Unterm Strich hat sich kaum viel geändert: Wer gläubig war, ist es immer noch, und wer nicht gläubig ist, paßt sich an, spielt den Christen, wenn er sich von den Christdemokraten einen Posten in der Kommune erhofft, und fl irtet mit dem historischen Kompromiß, wenn er meint, die Kommunisten könnten ihm einen Posten in der Regionalverwaltung sichern.
Allerdings muß man bei diesen Phänomenen zwischen institutioneller Religiosität und Sinn für das Heilige unterscheiden.
Ein vor kurzem bei Liguori erschienener Sammelband von Franco Ferrarotti, Forme del sacro in un’epoca di crisi (»Formen des Heiligen in einer Krisenzeit«), bringt diese wichtige Unterscheidung wieder ins Spiel: Die Tatsache, daß die Teilnahme an den Sakramenten in die Krise geraten war, hat nie geheißen, daß der Sinn fürs Sakrale in die Krise geraten wäre. Die Formen der persönlichen Religiosität, die sich in den nachkonziliaren Bewegungen ma-nifestierten, haben sich über das ganze Jahrzehnt gehalten, in dem uns die Zeitungen weismachen wollten, die Gesellschaft hätte sich nunmehr gänzlich säkularisiert. Die neochiliasti-schen Endzeitbewegungen sind in den beiden Amerika ständig gewachsen und erscheinen jetzt unübersehbar auch in Europa aus Gründen, die mit dem Zusammenprall von avancierter Industriegesellschaft und marginalisiertem Subproletariat zu tun haben. Und zu diesem Komplex des Heiligen gehört schließlich auch der atheistische Neochiliasmus, das heißt der politische Terrorismus, der in gewalttätigen Formen ein von der Mystik geprägtes Szenario wiederholt: das Verlangen nach leidvoller Zeugenschaft, Martyrium und reinigendem Blutbad. Mit einem Wort, all diese Phänomene sind zwar durchaus real, aber sie gehören nicht in das modische Bild der geistigen »Wende«. Sie verstellen höchstens, wenn sie so pittoresk ausgemalt werden, den Blick auf die wirklich neuen Fakten, die eher politische Wendemanöver betreffen.
Interessant erscheint mir dagegen das Thema der Rückkehr zum Heiligen bei einer gewissen atheistischen Sakralität, die sich nicht als Antwort des traditionell-religiösen Denkens auf die Enttäuschung der Linken darstellt, sondern gerade als autonomes Produkt eines in die Krise geratenen weltlichen Denkens.
Auch dies ist freilich kein Phänomen, das erst in den letzten Jahren entstanden wäre, seine Wurzeln reichen viel weiter zu-rück. Interessant ist jedoch, daß es heute in atheistischen Formen bestimmte Modalitäten durchläuft, die bisher für das religiöse Denken charakteristisch waren.
Der springende Punkt ist, daß die Gottesvorstellungen, die sich durch die Geschichte der Menschheit ziehen, von zweierlei Art sind. Einerseits haben wir einen persönlichen Gott, der die Fülle des Seins verkörpert (»Ich bin, der ich bin« = »Ich bin, der da ist«) und der folglich alle Tugenden in sich vereint, die der Mensch nicht hat. Er ist der Gott der Omnipotenz und des Sieges, der Herr der Heerscharen. Doch ebendieser Gott manifestiert sich häufi g auf entgegengesetzte Weise, nämlich als der, der da nicht ist. Er ist nicht, weil er nicht benannt werden kann, er ist nicht, weil er sich mit keiner der Kategorien beschreiben läßt, die wir zur Bezeichnung der existierenden Dinge gebrauchen. Dieser Gott, der nicht ist, zieht sich durch die ganze Geschichte des Christentums: Er verbirgt sich, ist unaussprechlich, ist faßbar nur kraft einer negativen Theologie, als Summe all dessen, was über ihn nicht gesagt werden kann, man spricht von ihm nur, indem man das menschliche Unwissen feiert, und man benennt ihn höchstens als Strudel, Abgrund, Wüste, Einsamkeit, Schweigen, Absenz.
An diesem Gott nährt sich der Sinn für das Heilige, der die institutionalisierten Kirchen ignoriert, wie ihn vor mehr als fünfzig Jahren Rudolf Otto in seinem berühmten Buch Das Heilige beschrieben hat. Das Heilige erscheint uns als
»Numen«, als »Tremendum«, es ist die Ahnung, daß etwas nicht vom Menschen Gemachtes
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