Über Gott und die Welt
nur verändert, und auch die Werturteile werden sich andere Maßstäbe zulegen müssen.
Das Interessante ist, daß siebzehnjährige Schüler dies alles instinktiv besser begreifen als siebzigjährige Professoren (ich beziehe mich auf das Alter der Arterien, nicht unbedingt auf das der Geburtsurkunde). Die Lehrer und Professoren sind überzeugt, daß die Schüler nicht lernen, weil sie immerzu Asterix oder Fixifox »oder dergleichen« lesen, aber womöglich lernen die Schüler deswegen nicht, weil sie zusammen mit Fixifox und Moebius (die so weit voneinander entfernt sind wie James Bond und Robbe-Grillet) Hesses Siddhartha lesen, aber als wäre es eine Glosse zu Pirsigs Buch über Zen und die Kunst ein Motorrad zu warten. Es dürfte klar sein, daß die Schule an diesem Punkt ihre Lehrbücher über das richtige Lesen (sofern sie je welche hatte) revidieren muß. Und ihre Lehrbücher über die Frage, was Dichtung ist und was keine.
Allerdings muß die Schule (und die Gesellschaft, und nicht allein für die Jugendlichen) auch lernen, neue Fertigkeiten im Umgang mit den Massenmedien zu lehren. Alles, was in den sechziger und siebziger Jahren gesagt worden ist, muß revidiert werden. Damals waren wir allesamt Opfer (vielleicht zu Recht) eines Modells der Massenmedien, das jenes der Machtverhältnisse reproduzierte: ein zentraler Sender mit präzisen politischen und pädagogischen Plänen, kontrolliert von »den Herrschenden«, von der ökonomischen und politischen Macht, die Botschaften übermittelt durch erkennbare, technologisch bestimmte Kanäle (Wellen, Drähte, Kabel, identifi zierbare Apparate wie Fernseher, Radios, Projektoren, hektographierte Seiten) und die Empfänger als Opfer der ideologischen Indoktrination. Es genügte, diese Empfänger zu lehren, die Botschaften richtig zu »lesen«, sie zu kritisieren, vielleicht wäre man so ins Reich der geistigen Freiheit gelangt, ins Zeitalter des kritischen Bewußtseins … Es war auch der Traum von Achtundsechzig.
Was heute Radio und Fernsehen sind, wissen wir: unkon-
trollierbare Pluralitäten von Botschaften, die jeder benutzt, um sich auf den Tasten der Fernbedienung ein eigenes »Programm«
zusammenzustellen. Die Freiheit des Benutzers ist damit nicht größer geworden, aber gewiß hat sich die Art und Weise ver-
ändert, wie man ihm beibringt, frei und bewußt zu sein. Und im übrigen haben sich ganz allmählich zwei neue Phänomene herausgebildet, nämlich die Multiplizierung der Medien und die Medien im Quadrat.
Was ist heute ein Massenmedium? Eine Sendung im Fernsehen?
Auch, gewiß. Aber versuchen wir einmal, uns die folgende nicht unvorstellbare Situation vorzustellen: Eine Firma produziert T-Shirts mit einer aufgedruckten Wiesenstelze und macht dafür Reklame (kein ungewöhnliches Phänomen). Die Jugend fängt an, diese T-Shirts zu tragen. Jeder Träger des T-Shirts macht vermittels der Wiesenstelze auf seiner Brust für das T-Shirt Reklame (so wie jeder Besitzer eines Fiat Panda ein unbezahlter und zahlender Propagandist der Marke Fiat und des Modells Panda ist). Eine Sendung im Fernsehen zeigt, um realistisch zu sein, Jugendliche mit dem Wiesenstelzen-T-Shirt. Die jungen (und alten) Zuschauer sehen die Sendung und kaufen sich neue T-Shirts mit der Wiesenstelze, weil sie »jung macht«.
Wo ist hier das Massenmedium? Ist es die Werbeanzeige in der Zeitung, ist es die Sendung im Fernsehen, ist es das T-Shirt?
Wir haben es hier nicht mit einem, sondern mit zwei, drei und vielleicht noch mehr Massenmedien zu tun, die auf diversen Kanälen agieren. Die Medien haben sich multipliziert, aber einige unter ihnen agieren als Medien von Medien und somit als Medien im Quadrat. Wer sendet jetzt die Botschaft? Der Fabrikant, der das T-Shirt herstellt? Der Käufer, der es trägt?
Der Regisseur, der es im Fernsehen zeigt? Wer produziert die Ideologie? Denn zweifellos handelt es sich um Ideologie, man braucht nur die Implikationen des Phänomens zu analysieren: das, was der Fabrikant ausdrücken will, der Träger, der Regisseur.
Doch je nachdem, welchen Kanal man ins Auge faßt, ändert sich die Bedeutung der Botschaft und vielleicht auch das Gewicht ihrer Ideologie. Nirgendwo ist mehr »die Macht« zu greifen, die eine und allgewaltige Macht (wie war sie doch tröstlich!). Oder wollen wir sie etwa mit der Macht des Designers identifi zieren, der die Idee gehabt hatte, das T-Shirt mit einer Wiesenstelze zu schmücken, oder mit der des Fabrikanten (womöglich
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