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Über Gott und die Welt

Über Gott und die Welt

Titel: Über Gott und die Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
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Beispiel: 1) Kinder sollten keine Comics lesen. – Irrtum, lesen Sie nur mal die soziologischen Studien der Amerikaner … 2) Okay, die habe ich auch gelesen und fi nde, die sind nicht schlecht. – Scheint mir keine sehr originelle Entdeckung, vor vierzig Jahren hat bereits Gilbert Seldes in Seven Lively Arts … 3) Na gut, mit Seldes bin ich einverstanden … – Klar, natürlich: Jetzt sind ja bei uns die Comics in Mode!
    Oder: 1) Bei Manzoni in den Promessi sposi fi nden sich einige lyrische Aufschwünge, niedergehalten durch die im ganzen unpoetische Struktur. – Irrtum, lesen Sie mal die amerikanischen Studien über narrative Strukturen … 2) Ich hab’s mir überlegt, auch die Handlung hat einen poetischen Wert. – Tolle Entdeckung, das wußte schon Aristoteles. 3) Gut, und was meinen Sie wohl, wer recht hatte? – Klar, natürlich, jetzt machen ja alle auf Aristoteliker!
    Das vorgeschlagene Spiel ist nicht aus der Luft gegriffen. Wenn etwas den ausländischen Gastredner in einem unserer kulturellen Zirkel frappiert, dann der Einwand, daß alles, was er da sage, schon jemand anders gesagt habe. Gewöhnlich versteht der Ausländer nicht, warum er sich darüber grämen soll. Was er nicht weiß: Kaum hat er ausgeredet und ist gegangen, wird jeder, der sich mit seinen Ansichten einverstanden erklärt, des Konformismus geziehen. Nach drei Versuchen kann sein italienischer Fan ihn nicht mehr zitieren.
    Es gibt keinen Ausweg aus diesem Spiel, denn es beruht auf drei unanfechtbaren logisch-anthropologischen Grundprinzipien, nämlich: 1) für jede irgendwo aufgestellte Behauptung fi ndet sich eine früher schon irgendwo anders aufgestellte Gegenbehauptung; 2) für jede irgendwann aufgestellte Behauptung fi ndet sich ein Fragment der Vorsokratiker, das sie antizipiert; 3) jede Einverständniserklärung mit einer These macht, sobald sie von mehr als einer Person bekundet wird, die Ansichten dieser Personen als »ähnlich« oder »konform« defi nierbar.
    Das soeben beschriebene Nationalspiel macht die Italiener besonders empfänglich für jene Gefahr, die man gemeinhin als
    »kulturelle Mode« bezeichnet. Bestrebt, auf dem laufenden und modern zu sein und streng mit denen, die es nicht ebenso sind, neigen die Italiener dazu, jeden Gedanken parasitär zu fi nden, der sich aus Modernitätsbestrebungen anderer ergibt, und die (er-wünschte) Modernität als Mode zu verdammen. Da ihr Streben nach Modernität sie den Gefahren der Mode aussetzt, fungiert ihre Strenge gegenüber den Modernitätsbestrebungen anderer als Korrektiv und bewirkt, daß die Modernisierungen immer nur kurz und vorübergehend sind, also genau eben »Moden«. Infolgedessen bilden sich kulturelle Strömungen und Bewegungen nur mit Mühe, denn eifersüchtig wachen die Weißen über die Schwarzen und stimulieren sie zu fortwährendem Stellungswechsel, wobei jeder Weiße zum Schwarzen eines anderen wird, der seinerseits vorher ein Schwarzer war. So neutralisiert das Streben nach Modernität im Verein mit der Angst vor Moden die Modernisierung und stärkt eben gerade die Moden.
    Dieser Zustand könnte nun eine gewisse äquilibristische Dauerhaftigkeit und eine nicht unschöne Grazie haben, sozusagen als permanentes Ballett der kritischen Intelligenz, wenn nicht die Entwicklung der Massenmedien ein weiteres Element ins Spiel gebracht hätte, nämlich die Präsenz der Italiener, die sich für Fußball interessieren.
    Angeregt durch die rasche popularisierende Zirkulation der Zeitungen und Illustrierten erfahren die italienischen Fußballfans von dem Spiel, das in den Oberklassen gespielt wird. Doch sie erfassen von ihm nur einige Elemente, so daß sie den Zyklus Ignoranz-Information-Konsens-Mode-Widerwillen nur halb absolvieren. Sie treten gewissermaßen erst beim dritten Zug in das Spiel ein, wenn der Spieler Schwarz gerade einer herrschenden, von anderen formulierten These zustimmt, und fi xieren sich auf die Entdeckung, ohne zu merken, daß derselbe Spieler, von Weiß geschlagen, die These angewidert verwirft und eine neue Partie beginnt. Infolgedessen dauert die Mode in den unteren Klassen länger (in Form von Sprachgebräuchen, Rückgriffen auf stereotype Argumente und Klischees) als in den herrschenden Klassen (wobei die Unterteilungen in herrschende Klassen und Proletariat hier Trennlinien folgen, die nicht unbedingt mit der ökonomischen Realität zu tun haben müssen).
    Daher kann es interessant sein, das Aufkommen, Andauern und Zerfallen einer

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