Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Über Nacht - Roman

Über Nacht - Roman

Titel: Über Nacht - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
Vom Netzwerk:
transplantiert worden. Irma befühlte die kleine Wölbung links unterhalb des Nabels.
    Nochmals versuchte sie alles von Anfang an zu rekonstruieren – nichts. Sie stand zwei Schritte vom Bücherregal entfernt, aber es schien ihr, als wären es mehrere Meter. Sie rief sich die Namen ihrer Familie ins Gedächtnis, deren Geburtstage, zählte die Berufe auf, die sie in ihrem Projekt berücksichtigen wollte, von der Amme, dem Bader und dem Barchentweber bis hin zum Wachszieher, Zaumschmied und Zinngießer. Dochkaum versuchte sie herauszufinden, was sie vor dem Bücherregal gesucht hatte, sah sie nur die von der Sonne verbogene Kerze auf dem Tisch und Florians roten Bagger in der Ecke neben dem Fenster.
    Die Grillen zirpten, Spatzen landeten auf den Zweigen der Platanen, starteten wieder los, nachdem sie auf den Fruchtkügelchen gehangen hatten und Mücken oder kleine Käfer verzehrt hatten, oder sie flüchteten vor den Krähen, deren Rufe Irma aus dem Nachmittagsschlaf gerissen hatten. Sie setzte sich wieder an den Computer, rief die E-Mails ab; es waren Glückwünsche zur Transplantation, ein Antwortschreiben des pensionierten Schriftsetzers Alois Zeder, er habe Zeit für ein Gespräch, wann immer sie wolle, jede Menge Spams, Werbesendungen für Vernissagen, Theateraufführungen und Konzerte. Und dazwischen fand sie endlich eine Nachricht von Marianne:
Ich freu’ mich so für Dich, hoffentlich geht alles gut. Ich war in der Zwischenzeit im Spital, ein Shuntaneurysma, Du kennst das ja.
    Instinktiv griff Irma nach ihrem vernarbten Arm, tastete nach der Stelle, wo man Vene und Arterie für die Blutwäsche zusammengenäht hatte, kurz bevor die Nieren nicht mehr zu gebrauchen gewesen waren. Sie legte den Arm ans linke Ohr, hörte ihr eigenes Blut rauschen. Nachts hatte sie manchmal nicht einschlafen können, wenn sie auf dem Bauch gelegen war, den Arm unterm Kissen. Im Gegensatz zu Florian, der sich als Baby von dem gleichmäßigen Strömungsgeräusch hatte beruhigen lassen, machte sie der erhöhte Blutfluß nervös; er erinnerte sie daran, daß sie ihm das Leben verdankte. War das Rauschen nicht mehr zu hören gewesen, weil sie im Halbschlaf die Position des Armes verändert hatte, war sie in Panik geraten. Sie hatte sofort an die Schädigungen der Shuntvene gedacht, daran, daß die Wirbelbildungen des Blutstromsdie Gefäßwände aushöhlten wie ein Gebirgsbach die ihn umgebenden Felsen.
    Jetzt erschien Irma der Shunt wie eine zweite Möglichkeit; arbeitete das Transplantat nicht mehr, war da noch der Gefäßzugang für die künstliche Niere. Marianne hingegen hatte keine Wahl; selbst der Shunt am Unterarm mußte bereits dreimal operiert werden; man hatte schon vor einem halben Jahr erwogen, entsprechende Gefäßverbindungen nahe der Ellenbeuge, am Oberarm oder am Bein anzulegen.
    Irma hielt sich den Unterarm. Richard, fiel ihr ein, hatte Florian letzten Sommer das Gehäuse einer Meeresschnecke mitgebracht und ihm erzählt, man höre in ihr, wenn man sie nahe genug ans Ohr legte, das Meer rauschen. Aber Florian hatte nur den Kopf geschüttelt und auf Irmas Arm gezeigt. «Ganz die Mutter», hatte Richard gesagt, «kannst du dich noch an die Schnecke von Onkel Alfred erinnern?»
    Die Wellhornschnecke, die der Onkel einmal als Geschenk aus einem Griechenlandurlaub mitgebracht hatte, war von einem Kinderohr zum anderen gewandert; doch während Richard und die Mädchen aus der Nachbarschaft darin das Rauschen der Brandung zu vernehmen glaubten, während sich die anderen Kinder einbildeten, daß sie die Wellen gegen die Felsen schlagen hörten, hatte Irma schweigend in die Runde gesehen. Auch später noch hatte sie es mit größeren und kleineren Meeresschnecken und Muscheln versucht, aber da waren nur die Geräusche der nahen Umgebung zu hören gewesen, nicht einmal die des eigenen Körpers.
    Irma blickte zum Fenster hinaus; es war längst nicht mehr soviel Himmel zu sehen wie vor sieben Jahren, als sie hierhergezogen war. Dächer waren ausgebaut, neue Häuser auf die bestehenden draufgesetzt worden; den alten Bewohnern wurde immer mehr Licht weggenommen. Entlang des Dachfirsts verliefen jetzt schmale Stege, auf denen im Sommerjunge Männer mit nackten Oberkörpern zu sehen waren. Einmal, sie hatte Florian im Arm gehabt und ihm die Flasche gegeben, war sie beim Anblick dieser

Weitere Kostenlose Bücher