Über Nacht - Roman
jungen, braungebrannten Körper in Tränen ausgebrochen.
Das Gebläse im Innern des Computers schaltete sich für einen Augenblick aus; Irma horchte in die Stille. Florian fehlte ihr, dieses «Mama, spiel mit mir», die Einkäufe, die er für sie erledigte, wenn er mit seiner kleinen Tasche vom Wohnzimmer ins hintere Kabinett spazierte, um ihr wenig später Luftmilch, Luftbutter und Luftkekse in die Hand zu drücken und dafür zehn Lufteuro zu verlangen, die sie per Handschlag bezahlen muÃte. Er liebte es, Besorgungen zu machen, das Auto, den roten Staubsauger, in die Reparaturwerkstätte zu fahren, um Irma wenig später zu erklären, der Auspuff sei kaputt oder die Antenne abgerissen gewesen â egal was er für Irma tat, alles kostete zehn Euro, einen Handschlag, den er mit einem lauten «Danke. Auf Wiedersehen!» quittierte.
Irma hatte soeben auf die E-Mail des Schriftsetzers geantwortet, da klingelte es an der Wohnungstür. Es war Davide. Er trug ein enganliegendes schwarzes T-Shirt. Obwohl er mit der U-Bahn gefahren war, wirkte er, als käme er frisch aus der Dusche. Richard hatte einmal behauptet, Davide besitze keine SchweiÃdrüsen; Flecken unter den Achseln habe er nur dann, wenn er sich irrtümlich eines von Richards T-Shirts übergezogen hätte, was aber so gut wie nie vorkommen würde, weil Davide jedes herumliegende Wäschestück sofort in den Wäschekorb beförderte.
«So gefällst du mir schon besser», sagte Davide. Er strich mit dem Zeigefinger über Irmas Wange, stellte die Nylontasche auf den Tisch. Es roch nach frischem Sugo.
«Besser? Von wegen. Komm mal mit.» Irma ergriff Davides Hand, zog ihn vor den Badezimmerspiegel.
«Siehst du? Das Grübchen in der linken Wange ist nichtmehr sichtbar, wie ausgestopft. Auch diese Kerben hier», sie zeigte auf eine der beiden Falten, die von der Nase zu den Mundwinkeln laufen, «sind nur mehr sanfte Linien.»
«Andere zahlen dafür eine Menge Geld beim Schönheitschirurgen», lachte Davide, «das wird schon wieder.»
Je länger Irma in den Spiegel blickte, desto eher schien es ihr, als träte ein Unbekannter durch die Haut hervor, breitete sich in ihr aus, lieÃe Lider und Wangen dicker werden. «Machen Sie sich gefaÃt», hatte der junge Arzt gesagt, «durch die Immunsuppressiva und das Kortison werden die Haare wachsen, auch an Stellen, wo Sie noch keine hatten, und die Haut bekommt eine andere Struktur.»
«Irgendwann», hörte sie Davide sagen, «wirst du weniger Medikamente nehmen müssen, dann hast du wieder dein altes Gesicht.» Er strich Irma über den Rücken, massierte ihren Nacken. Sie schloà die Augen, dachte daran, daà er sie schon oft getröstet hatte. Die Zeit arbeite für sie, man werde eines Tages die defekten Organe austauschen wie Computermodule. Ein anderes Mal â Irma hatte Davide von den nackten Männeroberkörpern erzählt, die sie zum Weinen gebracht hatten â war er bis spät in der Nacht an ihrem Bett gesessen, hatte Florian versorgt. «Es gibt Bilder», waren seine Worte gewesen, «die werden zum Magnet.» Er weine manchmal unter der Dusche.
Nachdem sie wieder ins Wohnzimmer zurückgekehrt waren, nahm Davide die Tupperware aus der Tasche, frische Lasagne, die er am Nachmittag zubereitet hatte.
«Was machst du jetzt mit den teuren Reformhausnudeln?» fragte Irma.
Man habe sie anstandslos zurückgenommen, antwortete Davide. «Diese eiweiÃarme Pasta sah nicht nur aus wie eingeweichter Karton, die hat auch so gerochen. Gott sei Dank bist du die nun los. Soll ich dir die Lasagne warm machen? Vielleichtdie Hälfte? Nicht daà du mir jetzt zuviel iÃt, es wärâ schade um deine Figur.»
Irma dachte an die diversen Ratgeberhefte, die vor HeiÃhunger warnten. Nach jahrelanger Diät seien die meisten Transplantierten nicht mehr imstande, normal zu essen; Milch, Fleisch, Käse, SüÃspeisen â alles, was zuvor aufgrund des hohen EiweiÃgehaltes verboten gewesen sei, würden sie nun in sich hineinessen. «Und vergessen Sie nicht», hatte die Ãrztin vor der Entlassung gesagt, «daà sich die Funktion der Eierstöcke sofort wieder normalisiert, wenn man nicht mehr an der Dialyse ist. Sie sind schneller schwanger, als Ihnen lieb ist.»
«Warum lächelst du?» fragte Davide. «Bin ich zu fürsorglich?
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