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Über Nacht - Roman

Über Nacht - Roman

Titel: Über Nacht - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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unmittelbaren Kürzung bedroht war. Irma kannte den Mann nicht, aber sie war sich sicher, daß er nicht wußte, was es bedeutete, ein gestörtes Selbstbild zu besitzen, noch dazu eines, das nicht nur vom eigenen nahen Tod, sondern auch vom Tod eines Fremden bestimmt war.
    Sie legte die Zeitschrift beiseite, schaute sich die Speisekarte an. Alles wollte sie bestellen, alles, was ihr über die Jahre zu essen verboten gewesen war: Salziges, Proteinhaltiges, Kaliumreiches. Richard, fiel ihr ein, hatte beim letzten Familienessen auf die Frage, was er denn nun bei der Sicherheitskontrolle am Flughafen verdiene, geantwortet: «Ich muß noch immer auf die rechte Seite der Speisekarte schauen.» Nachdem er sein Jusstudium abgebrochen und jahrelang Gelegenheitsjobs gemacht hatte, war er nun bei der SIKO, einer Tochtergesellschaft der Austrian Airlines, angestellt und durchsuchte das Gepäck der Passagiere nach Sprengstoff, Waffen oder anderen unerlaubten Gegenständen.
    Ich, dachte Irma, werde keinen einzigen Blick auf die rechte Seite werfen; endlich ist die Speisekarte eine Speise- und keine Verbotskarte mehr. Sie schaltete das Handy auf lautlos, um nicht gestört zu werden. Aber im selben Moment mußte sie daran denken, daß sie wohl nicht aufhören würde, den eigenen Körper als Nullpunkt eines Koordinatensystems wahrzunehmen, mit dessen Hilfe sie alles um sich herum einteilte.
    Irma rückte mit dem Stuhl zur Seite, als sich eine junge Frau an den Nebentisch setzte. Die Frau suchte wie Irma nach ein wenig Schatten. Kaum hatte sie es sich bequem gemacht und die Sandalen ausgezogen, läutete auch schon ihr Handy. Die Frau stritt sich mit einem Mann, nannte ihn einen Lügner.«Das nächste Mal werfe ich nicht nur deine Krawatten aus dem Fenster», hörte Irma die Frau leise sagen, dann klappte die Frau mit dem kinnlangen, gewellten Haar, das Irma an Photos aus den zwanziger Jahren erinnerte, das Mobiltelephon zu und starrte in den Himmel, wo außer eines verblassenden Kondensstreifens nichts zu sehen war.
    Irma hatte jedes Wort verstanden, tat aber so, als habe sie nichts gehört und sei ganz auf ihr Handy konzentriert gewesen. Sie schrieb jetzt an Marianne:
Du bist mir doch nicht böse. Warum meldest Du Dich nicht?
Es wird auch dich treffen. Später als früher, dachte Irma. Sie löschte das Geschriebene, legte das Telephon auf den Tisch. Nichts vermochte auszudrücken, was sie empfand. Sie fühlte sich vom Schicksal bevorzugt und schämte sich dafür.
Marianne,
versuchte sie es ein zweites Mal,
ich bin immer für Dich da
. Wie unmäßig und überheblich das klang, wo sie es geschafft hatte, während Marianne noch immer auf den Anruf aus dem Krankenhaus wartete. Irma schien es, als würde ihr Glück Mariannes Unglück verstärken. Nachdem sie einen großen Vorspeisenteller bestellt hatte, gab sie sich einen Ruck und wählte Mariannes Nummer. Aber in der Wohnung lief nur das Band, und das Handy war ausgeschaltet.
    Könnte man nur die erste Wohnstatt verlassen, wann immer man wollte
, hatte Marianne einmal in einer E-Mail geschrieben,
aber unser Körperschicksal ist endgültig. So oder so wird der Zufall höchstens ein paar vorübergehende Fenster errichten. Das Licht der anderen.
    Das Brillenglas der Frau am Nebentisch war so dunkel, daß die Augen dahinter nicht zu erkennen waren. Irma stellte sich vor, wie die Frau wütend ins Schlafzimmer gelaufen war, die Schranktür geöffnet und nach den erstbesten Krawatten gegriffen hatte, um sie wenige Sekunden später aus dem Fenster zu werfen. Sie fragte sich, wo wohl der Mann zu diesem Zeitpunkt gewesen war. Hatte er bereits das Haus verlassen,und die Krawatten waren ihm durchs Fenster nachgefolgt? Oder hatte er aus einem anderen Zimmer, vielleicht aus der Küche, den Wutanfall der Frau beobachtet? Irma griff nach ihrem Notizheft und schrieb:
Die Krawatten segelten durch die Luft.
    Vor dem gegenüberliegenden Marktstand, der wie alle anderen Markthäuschen wie eine etwas zu groß geratene Garage aussah, schnitt ein Mann mit einer elektrischen Säge Rindsknochen und Schweinehälften in Stücke und warf sie auf einen Schubkarren. Zwischen dem Fensterglas und den Rollos wimmelte es von Fliegen.
    Auf dem Weg nach Hause hatte Richard angerufen; er wollte sich vergewissern, daß es Irma gutgehe. Ein Kollege war eingesprungen, hatte ihn für die Dauer des

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