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Über Nacht - Roman

Über Nacht - Roman

Titel: Über Nacht - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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Gesprächs am Förderband vertreten. Im Hintergrund war das Geräusch der vorbeifahrenden Koffer zu hören gewesen; das aufgegebene Gepäck wurde im Keller automatisch geröntgt. Bis vor ein paar Jahren hatte Richard noch die verdächtigen Koffer und Kisten herausfischen müssen, inzwischen gibt es ein Vierstufensystem, in dem zuerst ein Computer entscheidet, ob das Gepäckstück als unverdächtig gilt oder ob es zum
Hold Baggage Screening
kommt. Gibt es dann noch Fragen, wird es visuell auseinandergenommen. Erst Stufe vier sieht eine Öffnung des Gepäcks in Anwesenheit des Besitzers vor.
    Lieber, hatte Richard erzählt, stünde er oben, vor den Schleusen, und schöbe die Plastikwannen mit dem Handgepäck durch den Durchleuchtungsapparat, aber im Keller verdiente er mehr. Irma faszinierte, daß Richard Dinge sehen konnte, die anderen verborgen blieben. Er drang in das Intimleben fremder Menschen ein, wenn er vor dem Monitor saß und die Bilder gefrieren ließ. Sprengstoff, hatte er ihr einmal erklärt, könne aussehen wie ein Steak oder wie Bonbons; Glasund Keramik seien auf dem Bildschirm grün, Metall blau. Je höher das spezifische Gewicht eines Gegenstandes sei, desto dunkler erscheine er auf dem Bildschirm. Bleikristall, Gold und Platin seien schwarz.
    Zu Hause angekommen, hatte sich Irma zuerst einmal ausgeruht; sie war noch immer schwach, ermüdete schnell; auf dem Sofa liegend hatte sie ihre Kopien durchgeblättert. Nachdem sie aufgestanden und zum Regal gegangen war, konnte sie sich nicht mehr erinnern, was sie eigentlich wollte. Sie legte ihren Kopf schief, las die Titel auf den Buchrücken. Gestern hatte sie sich von der Küche ins Schlafzimmer begeben; es war ihr nicht eingefallen, warum sie das Zimmer überhaupt betreten hatte. Ständig fand sie sich irgendwo in ihrer Wohnung wieder, ohne zu wissen, was sie suchte. Dabei war Florian noch bei ihren Eltern, er lenkte sie nicht ab. «Erhol dich erst», hatte Mutter gesagt, «wir kriegen das schon hin. Davide hat ja auch Zeit.» Aber eine längere Erholungsphase konnte sich Irma nicht leisten; sie mußte bis Ende des Jahres den ersten Teil ihres Projekts abschließen, damit sie bei der Arbeiterkammer um neuerliche Förderungen ansuchen konnte. Insgesamt hatte sie erst sieben Interviews transkribiert, zuletzt jenes mit Hans Luderer, dem Futteralmacher. Es war nicht sehr ergiebig gewesen. Dessen Großvater hatte noch Behältnisse für Toilettenartikel und für optische Instrumente erzeugt, Luderer selbst war nur noch auf Brillenetuis, Mappen und Pappkästchen spezialisiert gewesen und hatte aus Preisgründen auf die Verzierungen an den Futteralarbeiten verzichtet. Seine Aussprache, erinnerte sich Irma, war so undeutlich gewesen, daß sie Richard hatte bitten müssen, sich das Band anzuhören, weil sie mehrere Wörter nicht verstanden hatte.
    Sie mußte sich beeilen; der letzte Waldviertler Bandelkrämer, den sie mit viel Mühe hatte ausfindig machen können,war ihr weggestorben. Es gelang ihr gerade noch, das hölzerne Tabulett, das er bei seinen Verkaufstouren nach Wien und Umgebung vor dem Bauch getragen hatte, zu photographieren. Und dummerweise hatte sie sich nicht frühzeitig um Zwirn, Schnüre und Bänder gekümmert, so daß der eigentliche Zweck des Tabuletts auf dem Bild verborgen bleiben würde.
    Vor dem Bücherregal befiel Irma eine unklare Angst. Was, wenn diese plötzliche Vergeßlichkeit Gründe hatte, wenn sie der Anfang einer noch schlimmeren Krankheit war, wenn der Tote, von dem ihr niemand hatte sagen dürfen, wer er gewesen war, ihr Gedächtnis zu manipulieren, es nach und nach zu zerstören trachtete?
    Sie stellte sich plötzlich vor, wie das Transplantat im Styroporkasten am Flughafen die Sicherheitskontrolle passiert hatte. Was war am Monitor zu sehen gewesen? Eine orangefarbene zehn Zentimeter lange und fünf Zentimeter breite Bohne? War der Tote vielleicht gar nicht aus Österreich? Hatte man das Organ eingeflogen? War es geröngt worden?
    Unsinn, sagte sich Irma. Sie kehrte dem Bücherregal den Rücken zu. Ihr Herz schlug schneller. Irgendwo hatte sie einmal gelesen, daß man nur selten bestimmen könne, was man in einem gewissen Moment denkt. Also kann man auch nicht immer bestimmen, was man erinnert und was nicht. Ihre Hand glitt über den Bauch. Die neue Niere war ins Becken

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